#Sachbuch

Die Vision des Christlichen bei Friedrich Heer

Wolfgang Ferdinand Müller

// Rezension von Alfred Pfabigan

Oft verdecken populäre Bücher, Bestseller gar, das vollständige intellektuelle Profil eines Autors. Das ist auch Friedrich Heer widerfahren: Bücher wie „Gottes erste Liebe“, „Der Glaube des Adolf Hitler“ und auch sein in den letzten Jahren quasi neuausgegrabener „Kampf um die österreichische Identität“ überlagern im öffentlichen Bewusstsein Heers lebenslänglichen Versuch, ein Konzept der Bedeutung der Religion in der Moderne zu entwickeln. Das Etikett „Linkskatholik“, ursprünglich verwendet, um eine sich in den frühen sechziger Jahren in Organen wie der „Furche“ oder dem „Forum“ artikulierende äußerst heterogene Gruppe zu beschreiben, wird Heers Religiosität ebenfalls nicht gerecht: er hatte, so Wolfgang Ferdinand Müller, eine „Vision des Christlichen“, die Müller in einer voluminösen Monographie zu rekonstruieren versucht.

Zahlreiche AutorInnen verdanken Friedrich Heer ebenso viele Anregungen, es ist leicht, „mit“ Heer zu arbeiten, doch wer „über“ ihn arbeitet sieht sich mit unzähligen Problemen konfrontiert. In seinem mehr als 15.000 Seiten umfassenden Oeuvre hat er viele seiner Ideen – nicht nur die religiösen – niemals systematisch entwickelt, er war – auch aus Gründen, die mit seinem Denken substantiell verbunden sind – ein Feind der Definition (also des sich in „de-finere“ verbergenden Ausschließenden) und auch im Kontext seiner Basisidee von der „einen Wirklichkeit, die alles integriert“ ein Feind allzu präziser Distinktionen; seine Texte sind oft anlassgebunden, reagieren auf Tagesereignisse, auf gesellschaftliche Entwicklungen oder Missstände in der Amtskirche: Heer war zeitweise stärker an den Konsequenzen seiner grundsätzlichen Positionen interessiert als an deren Begründung; auch ist sein sprachlicher Duktus nicht immer frei von Exaltationen, scheint der Logik rhetorischer Figuren unterworfen und ist oft von einer eigenwilligen Metaphorik durchzogen: intellektuelle Geschehnisse werden etwa oft in der Bilderwelt der Kernspaltung beschrieben. Es kommt vor, dass Heer von einem Segment der Ideen eines Autors derart begeistert ist, dass er sich scheinbar pauschal mit seinem Gesamtwerk identifiziert und sein umfangreiches Werk enthält auch zahlreiche Widersprüche. Dass sich Evelyn Adunkas Monographie ihrem Objekt chronologisch und vor allem mit einer überbordenden Fülle von Zitaten nähert, ist also nicht nur der Autorin anzulasten.

Der Salzburger Theologe Wolfgang Ferdinand Müller hat eine kluge Arbeitsstrategie gefunden, um alle diese Schwierigkeiten zu umgehen: er konzentriert sich auf einige Zentralpunkte des Heer’schen Denkens, rekonstruiert ihren inneren Zusammenhang und baut gewissermaßen eine Hierarchie auf, die vom Wirklichkeitsverhältnis Heers zu seiner im Titel angesprochenen Vision des Religiösen führt. Es gibt für Heer nur eine Wirklichkeit, der wir zwar nicht entkommen können, der gegenüber aber die Haltung des „archaischen Urvertrauens“ in uns angelegt ist, das uns hilft, jene Wirklichkeit, die auch das Böse enthält, zu meistern. Schon Roman Rocek hat in seinem Nachruf darauf hingewiesen, dass Heer seit Hegel der erste gewesen sei, der den Anspruch des Satzes, „Die Wahrheit ist das Ganze“, nachzuleben versucht habe und Adolf Gaisbauer hat ein „unablässiges Gespräch“ zwischen Heer und Hegel registriert. Die enorme Gegensätzlichkeit der „einen“ Wirklichkeit wird uns dadurch ständig bewusst, dass wir als kommunizierende Wesen agieren: die Existenz des Feindes stellt uns etwa die Frage, die wir uns selbst nicht stellen – dieser Gedanke zeigt wohl, wie wichtig für Heer das heute häufig aus den Konstellationen des „Kalten Krieges“ verstandene „Gespräch der Feinde“ war. Diese „eine“ Wirklichkeit ist die Schöpfung der dreifaltigen Gottheit, in der die Gegensätze kommunizieren: im Umgang mit dem Anderen in seiner speziellen Pluralität wird Gott erfahren. Die Idee von der „einen“ Wirklichkeit war wohl auch etwas, womit Heer seine äußerst heterogene Gotteserfahrung zusammenhielt: Gott sei – referiert Müller – „alles zuzutrauen“. Dahinter steckt ein Amalgam aus philosophischen Ideen, solchen, die im Sinne einer konventionellen Theologie ketzerisch sind – etwa die fast gnostische eines potentiell bösen Gottes oder die zahlreichen Anleihen bei der Mystik – und einem gelegentlich naiven Kinderglauben. Müller zeigt, dass Heer keineswegs ein prinzipieller Gegner der Amtskirche war – das Christentum braucht die Institutionalisierung, um sich durchsetzen zu können. Diese Institutionalisierung hat allerdings häufig die notorisch mit ihr verbundenen Konsequenzen gezeitigt, vor allem eine Verengung, die Heer als Verarmung erlebt. So mündet seine Konzeption neben ihrer spirituellen Komponente in einem „großen Ja zur Neuzeit, zur Gegenwart“.

Auch Müllers Projekt, sich in dem „Gletschergeschiebe“ von Heers Gedanken einen Weg zu bahnen, zeitigte – trotz der Beschränkung auf zentrale Schriften – ein voluminöses Buch. Müller erleichtert seinen Lesern die Lektüre durch mehrere Zusammenfassungen, die man dankbar registriert. Heers „Vision des Christlichen“ ist hier sicher in all ihrer Vielschichtigkeit rekonstruiert und kommunizierbar gemacht worden. Die Stellung zur Amtskirche bleibt allerdings offen: der Autor distanziert sich von Evelyn Adunkas Behauptung einer extremen Entfremdung zwischen Heer und dem (nicht nur österreichischen) Katholizismus, geht aber auf ihre Argumente kaum ein. Am Ende der Lektüre nimmt man überrascht zur Kenntnis, das heutige kirchenkritische Strömungen im Werk Friedrich Heers weniger „Munition“ finden als dessen Zeitgenossen.

Wolfgang Ferdinand Müller Die Vision des Christlichen bei Friedrich Heer
Salzburger Theologische Studien. 19.
Innsbruck, Wien: Tyrolia, 2002.
594 S.; brosch.
ISBN 3-7022-2432-7.

Rezension vom 23.04.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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