In der Masse der zeitgleichen literarischen Texte muss dies selbstverständlich eine Hypothese bleiben, denn ein „schwarzer Schwan“ findet sich immer in solch komplexen Strukturen. Sie wird produktiv in der möglichen Entgegensetzung zu und Reibung an einem Konstrukt, das so viele individuelle Positionen wie Interviewte enthüllt.
Wer heute die sprachkritische Tradition in der österreichischen Literatur abdanken lassen will, wagt gewiss etwas. Nicht weniger als den Antritt gegen die herrschende Meinung. Diese verkörpern im Buch Wendelin Schmidt-Dengler, der wohl wichtigste akademische Kritiker der österreichischen Gegenwartsliteratur, und Franz Schuh, sein Pendant in der freien Literaturkritik. Beide entziehen sich allerdings der Hypothese des Herausgebers, denn Schmidt-Dengler sieht im Zentrum der literarischen Wertung das Erkenntnisinteresse, das den literarischen Impuls leiten müsse, und Schuh setzt den Gattungsbegriff mit seinem Konzept der „Arbeitsweise“ außer Kraft, die eine unterschiedliche (z. B. dokumentierende oder konstruierende) Verarbeitung der Realität im Text bedeute. Da wird elegant ausgewichen, zwischen den Zeilen aber doch viel Anregung und Meinung gegeben. Das literaturwissenschaftliche Sprachrohr der jüngeren Generation gibt Klaus Zeyringer, Professor in Angers. Zeyringer sieht eine Art Schreibverbot, das in Österreich als Folge der Nazidiktatur geherrscht habe, in der neuen Generation überwunden, die eine neue Lust am Erzählen zeige. Die Jungen seien jetzt an großer internationaler Erzählliteratur geschult.
Die Schule des neuen Erzählens bilden neben Zeyringer, Glavinic, Hochgatterer noch Daniel Kehlmann und Martin Amanshauser. Ihre Programmatik nimmt ich-freies Erzählen und Ideologiefreiheit für sich in Anspruch. Damit lässt sich die neue Schule, wenn sie denn eine werden sollte, einpassen in den literaturtheoretischen Raster des zunehmenden Zerfalls des erzählenden Subjekts – und so kommt denn auch der Einwand, ichlos habe schließlich schon Flaubert geschrieben (Daniela Strigl).
Die Entgegensetzungen zu den ich-losen Narrativen kommen aus der gleichen Generation, von Franzobel etwa, der sich der Kategorisierung entziehen will, weil er sie für sinnlos hält und das Neue Erzählen in Verbindung mit einem Bedürfnis nach Harmonie in einer auseinanderbrechenden Welt bringt. Für Bettina Balàka, Vladimir Vertlieb und Dimitré Dinev gehört das Narrative selbstverständlich zur Literatur, weil es im Sog des Mitteilens entsteht (Balàka) oder in der Herkunftskultur nicht in Frage steht (Vertlieb, Dinev).
Lydia Mischkulnig wiederum erhält ihre Anregung aus der Sprache, für sie ist Sprache die Möglichkeit, anderes zu denken. Ähnlich, noch prononcierter, Evelyn Schlag. Margit Schreiner wiederum erteilt dem ichlosen Erzählen eine Absage, Vorbild für sie seien gerade Autoren mit einem starken Ich. Sie könne nur von der eigenen Erfahrung ausgehen. Josef Haslinger wiederum will Wirklichkeit im Roman erlebbar machen. Ferdinand Schmatz, Sprachkritiker der jüngeren Generation, hält am Neuen Erzählen die Verabschiedung des Zweifels für bedenklich.
Literaturverleger Herbert Ohrlinger vom Verlag Zsolnay hat dagegen den Markt im Auge: Literatur, die dem Bedürfnis der Leser nach Geschichten entgegen komme, erziele auch höhere Auflagen. Aufklärung dagegen werde heute abgelehnt.
Ist es in Österreich heutzutage möglich, Literarisches von bleibendem Wert zu schaffen, ohne dabei Sprache zu thematisieren? Nur vorsichtige Andeutungen sind zu finden. Das ist eine wahrhaft explosive Frage, die am Thema „Neues Erzählen“ abgearbeitet werden könnte: Kunst oder Kitsch?, was aber vorsichtshalber unterbleibt. Wir sind in Österreich. Die Leistung des Buches besteht jedenfalls in der detailreichen Markierung eines Überganges zu einer neuen Generation von Schriftstellern. Viele Namen, viele Buchtitel, viele Bewertungen von spezialisierten und kenntnisreichen LeserInnen und nicht zuletzt oft verdichtete poetologische Aussagen der einzelnen AutorInnen.