Kronzeuge der Untersuchung ist Franz Kafka – für kulturhistorische Forschungen zu medienparadigmatischen Fragestellungen am Beginn des 20. Jahrhunderts führt offenbar kein Weg an ihm vorbei. Müller baut das Fundament für seine Untersuchung von Goethe her auf und entwirft aus theoretischen Überlegungen der Zeit und literarischen „Hörbeispielen“ ein Bild vom zeittypischen Verständnis des Vortrags. Die Grenzlinie des Geschmacks verläuft zwischen dem Mimen, dessen Fach die dramatische Vergegenwärtigung ist, und dem Rhapsoden, der „als ein höheres Wesen in seinem Gedicht nicht selbst erscheinen“ soll, sondern am besten gleich hinter einem Vorhang lese, „so daß man von aller Persönlichkeit abstrahierte und nur die Musen im allgemeinen zu hören glaubte“. So heißt es in Goethes 1797 gemeinsam mit Schiller erarbeiteten Abhandlung „Über epische und dramatische Dichtung“. Darin schwingt Goethes prinzipielle Skepsis gegen die Schauspielkunst seiner Zeit mit, deren beklagenswerten Zustand er im „Wilhelm Meister“ – durchaus und auch zu Lasten der Titelfigur – ausführlich darstellt.
War die Bühne der Vorlesekunst bei Goethe noch der Salon, beginnt mit Ludwig Tiecks „Stimmentheater“ der Weg in den Vortragssaal, der sich parallel mit dem bürgerlichen Konzertsaal zu etablieren begann. Der erste, der für seine Lesungen (mit Vorliebe Klopstock) Eintritt verlangte, war Schubart; aber Tieck, bei dem auch der junge Heinrich Laube Unterricht nahm, galt den Zeitgenossen als „größter Schauspieler, der je die Bühne betreten hat“ (Clemens Brentano). Mit Vorliebe las Tieck Theaterstücke (auch von Goethe) und beeindruckte mit seinem „Conversationston“, der die Lautstärke, nicht aber die Modulation der Stimme moderierte. Der Kampf des Schauspiels gegen das „Ohrentheater“ setzte sich bis ins beginnende 20. Jahrhundert fort, mit unterschiedlichen Sprechschulen, für die jeweils markante Rezitatoren und später Schauspielerpersönlichkeiten wie Josef Kainz, Ernst von Possart oder Albert Bassermann standen. Diese „Stimmenzirkulation der Rezitatoren“ wurde durch die „Öffnung des Repertoires aufs Aktuelle hin um 1900 zu einer der Distributionsformen der Gegenwartsliteratur“ (S. 34). „Zu den reisenden Rezitatoren und Schauspielern, die im späten 19. Jahrhundert die Sprechkunst an die Infrastruktur des modernen Theaters und Konzertwesens heranführten“ (S. 77), kam zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Geburtsstunde der öffentlichen Autorenlesung. Die Frage, ob gerade ein sich abzeichnender Medienwechsel – damals die analoge, heute die digitale Aufzeichnungstechnik – das Interesse am Auratischen der Dichterstimme und -persönlichkeit befördert, stellt Müller nicht.
Während Tieck sein Publikum auf die neue Kommunikationssituation des schweigenden Zuhörens noch einüben musste – er untersagte den Damen zu stricken und den Herren zu rauchen -, war das neue Setting um 1900 etabliert. Kafka schrieb sich selbst nicht nur ein besonderes „Talent“ zum Zuhören zu, er las auch „höllisch gern vor“, wie er nach seiner ersten öffentlichen Lesung am 4. Dezember 1912 an Felice Bauer schrieb. (Kafka las die noch unpublizierte Erzählung „Das Urteil“ auf Einladung von Willy Haas für die Herdervereinigung im Prager Hotel Erzherzog.) Denn Kafka war nicht nur als Besucher ein „aufmerksamer Zeuge der Institutionalisierung der Autorenlesung“, er absolvierte auch selbst einige, die allerdings, wie jene aus „In der Strafkolonie“ in München am 10. November 1916, nicht immer eine gute Presse fanden. Dafür fand Kafka in Ludwig Hardt, den er als Rezitator von Kleist und Hebel noch kennen und schätzen gelernt hatte, einen Vortragskünstler, der nach Kafkas Tod unermüdlich für die akustische Distribution seiner Texte tätig war.
Analoge Aufnahmen von Kafkas Stimmkunst sind nicht vorhanden, aber es existiert eine Vielzahl von persönlichen und literarischen Schriftzeugnissen über Kafka als Vorleser. Müller analysiert diese Texte und liest sie parallel mit Kafkas Selbstaussagen in Tagebüchern und Briefen zu eigenen Vorleseerlebnissen ebenso wie zu Darbietungen anderer, die er häufig besuchte. Er hörte Hofmannsthal ebenso wie Rudolf Steiner, Alexander Moissi („scheinbar wird nur die Zungenspitze zwischen die Worte gesteckt“) ebenso wie Albert Bassermann oder Gertrud Eysoldt sowie eine Vielzahl von (populär)wissenschaftlichen Vorträgen, die damals in Mode kamen und in den Printmedien die Rubrik „Aus dem Vortragssaal“ generierten. Müller zitiert Kafkas eigene Berichte sehr ausführlich, und so isoliert und konzentriert gelesen zeigen sie die unglaubliche stilistische Beweglichkeit zwischen der Beschreibung akustischer Phänomene, der Bewegungen der Stimme im Raum und psychogrammatischen Andeutungen über den Vorleser. Auch seine Urteile über die Vorlesekünste der Freunde wirken völlig unbestechlich, er notiert Vernichtendes ebenso wie uneingeschränktes Lob.
Was Lothar Müller überzeugend darstellt, sind die literarischen Lesenetzwerke, in die Kafka eingewoben ist – das frühe Kafka-Bild des scheuen, einsamen, unbekannten Autors wurde ja schon vor längerer Zeit richtig gestellt. Kafkas Training als Vorleser beginnt in der „innerfamiliären Vorlesegesellschaft“ (S. 91), in der er den Schwestern Werke der Weltliteratur vorliest. Das passiert in Abwesenheit der Eltern, doch auch ihnen liest er laut Tagebucheintragung zumindest einmal vor, und zwar den „Heizer“. Die nächste Stufe ist die erweiterte und doch abgefederte Öffentlichkeit des Freundeskreises, wie er ihn im Salon Fanta ebenso antraf wie im Haus Oskar Baums. Müller fügt all die vielen Zeugnisse über den Stimmenkünstler Franz Kafka zusammen, die ein Bild ergeben, aber nicht alles erklären können. Wie die Slapstick-Effekte aussahen, die Kafka in die Lesung des ersten Kapitels seines „Porceß“ einbaute und die bei allen Beteiligten Lachkrämpfe hervorriefen, wird ein Geheimnis bleiben. Und wie hat man sich den Genuß beim lauten Vorlesen vorzustellen, der sich für Kafka so anfühlt, „wie wenn ich mir einen Bindfaden über die Zunge führen würde“?
Die zweite Stimme zeichnet Kafkas Autoren-Leben als Paradebeispiel für die zeitliche Schnittstelle differenter Phänomene: „das anschwellende Stimmengewirr der Vorleser und Rezitatoren“ überlagert sich mit den Anfängen der „diachronen Speicherung und synchronen Zirkulation der technisch aufgezeichneten Stimmen“ (144f). Damit gelingt es Müller ohne großtönende Polemik die Grenzen von wissenschaftlichen Ansätzen zu zeigen, die zu ihrem Zeitpunkt durch Fokussierung – und das impliziert immer auch Reduktion – neuer Phänomene einen bedeutsamen Beitrag leisten, in deren Folge sich aber leicht die zunächst notwendigen Ausblendungen zu blinden Stellen verdichten. Müller rahmt seine Untersuchung anekdotisch mit Kafkas Bericht von der nächtlicher Begegnung mit einem verwirrten Rezitator; das Prinzip einer gut durchkomponierten, aber auch gefälligen Präsentation trägt ebenso zu einer lustvollen Lektüre bei wie die komplexe Sprache, die nur selten ein wenig ins zu Gewollte kippt, und die gediegene Ausstattung des Bandes in gewohnter Wagenach-Qualität.