#Roman

Dies unfassbare Ding

Peter Marius Huemer

// Rezension von Johanna Lenhart

Schatten durchziehen den zweiten Roman von Peter Marius Huemer Dies unfassbare Ding. Schatten, die ein Hochhaus – ‚der Turm‘ genannt – in eine etwas heruntergekommene Gegend einer nicht näher beschriebenen Stadt wirft. Und dieser Turm ist der Dreh- und Angelpunkt des Romans: Ein typisches großstädtisches Bauprojekt, das, nie ganz fertig geworden, nun schon wieder abgerissen werden soll.

„Organisator des Verschwindens“ (S. 37) bzw. dessen Handlanger ist Johannes Eichinger, Sprengmeister, ein Mann im Dazwischen. Er ist ähnlich konkret und gleichzeitig vage wie der Turm, der sich zunehmend als das titelgebende „unfassbare Ding“ entpuppt, in dem Johannes sich immer mehr verliert. Bei der Vorbereitung für die Sprengung werden, je höher man vordringt, Räume und ganze Stockwerke gefunden, die es laut Plan nicht geben sollte, und die immer mehr seltsame geometrische Formen beherbergen. Ein Umstand, der Johannes zunächst in heillose Unruhe stürzt, denn „was dem Plan widersprach, widersprach der Wahrheit“ (S. 52). Unfassbar – sowohl im Sinne von unglaublich wie auch von nicht richtig wahrnehmbar – ist das Ding, der Turm, aber nur für Johannes. Andere sehen zwar die Abweichungen, akzeptieren sie aber, ohne von ihrer Rätselhaftigkeit vereinnahmt zu werden.

Johannes ist ein einsamer Mensch, ohne an seiner Einsamkeit zu leiden, der auf andere einsame Menschen trifft und ihnen manchmal Gesellschaft leistet: auf den Hotelbesitzer, dessen Hotel neben dem Turm geschlossen wird, eine junge Bardame/Psychologiestudentin in einem Bordell, die Johannes regelmäßig besucht, um ihr in einer Art informeller Therapie von seinem Alltag zu erzählen, seinen im Büro wohnenden Chef, mit dem er sich gerne betrinkt. Es ist ein Arsenal skurriler Charaktere, die Huemer hier zusammenwürfelt, ohne dabei bemüht oder gar aufgesetzt zu wirken. Beinahe organisch ist das Personal des Romans verwoben mit Johannes und dem Turm – und alle stehen sie auf die eine oder andere Weise vor einem Anfang und einem Ende. Anfang und Ende, Vergangenes und Zukünftiges oder eigentlich der Moment des Übergangs sind das bestimmende Thema des Romans, ist es doch die Aufgabe des Sprengmeisters, den Dingen ein (erlösendes) Ende zu setzen. Vordergründig – denn Johannes selbst steht ebenfalls im Dazwischen:

„Die Wand riss er nieder, nur um zuzusehen, wie neue Mauern sich formierten. So lag seine Berufung darin, gegen die einförmige Ewigkeit, die sie sich erdreisteten einzufordern, aufzubegehren. Immer öfter kam ihm jedoch der Gedanke, dass auf jene doch nur wieder nächste Mauern folgten und dass der Ewigkeit die Chance genommen war, ihr Weiß abzustreifen. Trotzdem verlor sich sein Drang nicht zu zerstören, was immer vor ihm aufragte, weil ihm beides gleich widerstrebte – was gebaut war und was gebaut werden würde.“ (S. 38)

Man fühlt sich an den Essayband „Gespenster meines Lebens“ (dt. 2015) des britischen Kulturtheoretikers Mark Fisher erinnert und dessen Idee, wonach unserer Gegenwart von nicht verwirklichten Zukunftsplänen der Vergangenheit heimgesucht wird. Der Alptraum derEndlichkeit und Erschöpfung“ (Fisher 2015, 17), dessen Denken in der Vergangenheit feststeckt und nicht in der Lage ist, die Gegenwart zu erfassen, treibt in Kunst, Kultur und Stadtentwicklung unserer Zeit sein Unwesen. Erschöpfung und Endlichkeit sind auch die beiden zentralen Momente, die den Sprengmeister Johannes umtreiben. Er ist ein Gespenst, das, weder tot noch lebendig, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft lebt: „Johannes lebte bereits seit Längerem außerhalb der Zeit. Weder betrachtete er Vergangenes mit Wehmut noch Zukünftiges mit Zuversicht.“ (S. 18) Johannes steht wie der Turm unbeweglich monolithisch im Dazwischen, häufig in alkoholisierter, „wache[r] Besinnungslosigkeit“ (S. 121), und sammelt metaphorischen Staub, der sich in seiner Umgebung tatsächlich sammelt. Diese und andere motivische Parallelen werden von Huemer jedoch nicht überstrapaziert und auserzählt, sodass aus Andeutungen und Vergleichen eine Atmosphäre des Ungewissen, des Vagen entsteht, die gleichzeitig von einer exakten, eleganten Sprache lebt, die beinahe mühelos wirkt. So entsteht in Dies unfassbare Ding eine gegenläufige Dynamik, die jedoch zu faszinieren weiß: durch den Sog, den die Geschichte erzeugt, und das Innehalten, das die Sprache verlangt. „[…] keine Idee übersteht die Reise aus dem Gehirn“ (S. 210), erklärt der Architekt des Turms, als er mit dessen Abriss konfrontiert wird. Eine Aussage, die wohl auch für jeden literarischen Text gilt – in Dies unfassbare Ding hat die Reise ein höchst unterhaltsames Ziel gefunden.

Peter Marius Huemer Dies unfassbare Ding
Roman.
Wien: Septime, 2021.
216 S.; geb.
ISBN 9 78-3-99120-002-4.

Rezension vom 09.06.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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