Doch daraus wird nichts, die Rettung naht aus der Unterwelt: Salzer wird von der Armee der Unsterblichen aufgelesen, einer Guerilla-Kampftruppe von Vermissten, Totgeglaubten, Aussteigern wie ihm selbst, die in Wäldern und Bergregionen versteckt für ihren großen Einsatz trainieren. Aus Doktor Salzer wird Doktor Paranoiski, aus dem Loser ein gestählter Kämpfer, ein Held – oder einfach nur ein armer Irrer?
Ernst Molden entwirft in Doktor Paranoiski eine Gegenwelt zum vertrauten Wiener Stadtleben, eine unheimliche Underground-Ebene, ähnlich wie in seinen früheren Romanen. Aber diesmal entsteht sie in einem Verwirrspiel von Wirklichkeit und Wahnvorstellungen: ist die Gegenwelt nur Salzers Innenwelt oder eine Unterwelt, gegen die sich die ignorante Außenwelt verschworen hat? Und dass Paranoiskis heimliche Liebe der geheimnisvollen Kommandatin Realidád gilt, erhält geradezu Symbolcharakter.
Aber nicht nur die Realität, auch der Underground hat Sprünge. Die Unsterblichen sind „zerstritten wie der Olymp“ – oder wie das Parlament. Persönliche wie ideologische Differenzen begleiten die organisierten Störaktionen, dominieren die Trainingslager zur Vorbereitung auf den Tag X, an dem die Privatarmee ihre Ziele verwirklichen will: die Auflösung der Staaten, die Abschaffung des Geldes, die Bewaldung der Städte. Und Paranoiski soll dabei eine Schlüsselrolle spielen.
Obwohl der Protagonist zu einem Helden der Unsterblichen wird, ist „Doktor Paranoiski“ letztendlich die Geschichte eines Scheiterns. Je höher er die Karriereleiter nach oben klettert, desto weiter entfernt er sich von seinem ursprünglichen Ziel eines Lebens in Freiheit. Indem er die Fesseln der Zivilisation sprengen wollte, hat er sie gegen militärischen Drill eingetauscht, die Zwangsjacke einer Gemeinschaft, die den völligen Verzicht auf ein wie immer geartetes Privatleben verlangt und nicht einmal erlaubt, Fragen zu stellen.
Möchte man daraus eine philosophische Botschaft ziehen, so ist sie trostlos: es gibt kein Entkommen. Andererseits wirkt die Armee der Unsterblichen nicht nur düster, sondern ebenso lächerlich – Lächerlichkeit und Unvollkommenheit haben wiederum etwas beruhigend „Menschliches“, das Molden spannend und unterhaltsam zu schildern weiß. Unter den Unsterblichen finden sich etliche Charaktere zum Schmunzeln – fast zu lebendig für eine Wahnvorstellung, oder doch nicht?
Den Roman als Kritik an „gegenwärtig herrschenden Zuständen in der Welt“ zu lesen, scheint auf den ersten Blick plausibel, greift aber zu kurz. Der Text lässt sich nicht ohne Rückstände in politische Aussage transformieren. Glücklicherweise. Obwohl er etliche Anspielungen auf die konkrete (österreichische) Gegenwart enthält, verhindert die Vielschichtig- und -deutigkeit der künstlerischen Konzeption – auch nach der vielzitierten „amerikanischen Katastrophe“ des 11. September – die allzu platte Lesart als Schlüsselroman bzw. literarisches Manifest der Globalisierungsgegner.
Die Rahmenhandlung unterstreicht zusätzlich das Hin und Her zwischen Traum und Wirklichkeit: Der Text wird als Abschrift von Audiokassetten präsentiert, die dem Herausgeber mit einem „erläuternden“ Begleitbrief überlassen wurden: „Halten Sie sich auch vor Augen, daß, sollten die aus diesen Bändern entstandenen Papiere veröffentlicht werden, sie doch niemals zur Klarheit beitragen werden, denn alles, was Natur ist, strebt in die Verwirrung.“