Nathan hat den Boden unter den Füßen verloren. Er steckt mit Anfang Fünfzig tief in einer beruflichen und, für ihn noch schlimmer, in einer sexuellen, also existenziellen Krise. Auf das Leben wie auf seine berufliche Tätigkeit im Gesellschaftsressort ‚Leben‘ hat er keinerlei Lust mehr. Ja, das Leben wie das ‚Leben‘ sind für ihn schlichtweg lächerlich. Zum anderen ist Nathan, lebenslang bei Frauen durchaus erfolgreich und so etwas wie ein Don Juan, aber eher einer von der traurigen und nachdenklichen Gestalt, auf der Suche nach Erfüllung in der Liebe (in der er keinerlei Lust mehr spüren kann).
Auf der Couch der Psychotherapeutin Hannah Singer lässt Nathan sein bisheriges Leben Revue passieren. Bindet ihr aber auch so manche Lügengeschichte auf die Nase. Es gilt das Prinzip: wenn schon erfunden, dann wenigstens schön erzählt.
Und so erzählt dieser Nathan von seiner lieblosen Kindheit, den Eltern, die sich früh trennen, vom Vater, einem vergnügungssüchtigen Gesellschaftsreporter, der sich gern und oft und ausgiebig von den Prominenten, über die er berichtet, einladen lässt, seinen Sohn mitnimmt, aber regelmäßig links liegen lässt. Die erste eigene Wohnung, ein feuchtes Mezzanin, die ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht, und dann rasch immer mehr Erfahrungen, ein radikales anti-autoritäres und anti-professorales Engagement an der Universität, was schließlich im Abbruch des Studiums endet – das sind die nächsten Stationen. Woraufhin er von seinem Vater in der Redaktion untergebracht wird. Und danach immer wieder Beziehungen, die hoffnungsfroh und lustbereit beginnen und zumeist früh enden und in denen die Begierde auf beiden Seiten rasch verebbt. Eine Ehe, die von vornherein ein Missverständnis ist und ein kurzes Intermezzo bleibt. Eine zweite Ehe, in der sich die Karrierekurven gegenteilig entwickeln: Nathans Frau steigt immer höher. Während Nathan aussteigt und schließlich entlassen wird.
Am Ende kulminiert alles in einem geisterhaft anmutenden letzten erotischen Spiel mit der Geliebten, die Nathan wie angekündigt und abgesprochen am folgenden Tag verlassen wird, ein Exerzitium aus Lust und Schmerz und Rollentausch, als hätte sich dies ein James Ensor einfallen lassen (und nach Menasses eigener Aussage war dieses Bild die Keimzelle des ganzen Romans). Woraufhin danach alles wohl gepflegt endet und neue ruhige Bahnen findet. Candide hat seinen Lebensgarten gefunden. Nathan schreibt als fester freier Mitarbeiter für die Zeitung und hat die Wirrnisse des Lebens (und des ‚Lebens‘, das mittlerweile ‚LifeStyle‘ heißt) hinter sich.
Der Roman des Wieners Robert Menasse, auch ein streitbarer politischer Intellektueller, Kommentator und Kulturpublizist, ist eine kunst- und lustvolle Kreuzung aus Woody Allen-Filmen, den frühen erotisch expliziten Büchern Philip Roths plus einer gehörigen Portion Schmäh. Die angenehm leicht zu lesende und Funken schlagende Prosa wird punktiert von vielen Exkursen, aus denen Menasses Stimme deutlich zu vernehmen ist und worin vieles sehr böse und treffend – der Alltag in Redaktionen etwa – verspottet wird.
Er greift mit diesem Buch ein aus seinem bisherigen Werk bekanntes Motiv auf: Lust, Last und Freud – und deren Entzauberung. Ganz am Schluss kann sich Menasse eine hinreißende Volte nicht verkneifen. Künftig muss er, um auf Lesungen die sich unvermeidlich einstellende klassische Standardfrage „Haben Sie das alles selbst erlebt?“ zu beantworten, nur noch sein aufgeschlagenes Buch hochhalten. Auf den letzten zwei Seiten ist ein Foto zu sehen. Von circa Mitte, Ende der siebziger Jahre. Da sieht man in einem großen Kreis einen reich gelockten, vollbärtigen jungen Mann sitzen, in Griffnähe viele junge Frauen. Der weiße Pfeil signalisiert: Hier sitze ich, der Menasse, Robert. Und wie viel Frauen schauen mich, den Spaßmacher in der Runde, an – vier, fünf, sechs?
Doch glauben Sie ihm kein Wort – alles erfunden. Alles Fiktion. Alles ein Roman.