Helene Flöss macht aus dieser Illustriertengeschichte eine feine, eigenwillige und sprachlich stimmige Erzählung über eine lebensbedrohliche Krise. Sie verzichtet auf populärwissenschaftliches Wortbesteck und auf gängige theoretische „Erklärungen“ der Magersucht ebenso wie auf das Pathos der Selbsterfahrung. Flöss‘ Aufmerksamkeit gilt ganz und gar der Phänomenologie des selbstauferlegten Hungergebots, die Ursachen bleiben in Andeutungen aufgehoben. Hier wird kein exemplarischer Fall geschildert, sondern ein Individuum, das mit der Diagnose Anorexia nervosa ganz sicher unzureichend beschrieben ist.
Dali leidet nicht an Appetitlosigkeit, sondern an schrecklichem Hunger. Während sie für die Grafenkinder den unaussprechlichen „Kirschschmarren“ bäckt, plant sie ihren „Apfeltag“. Ihre Gedanken kreisen ums Essen, des Nachts träumt sie von sich unter köstlichen Gerichten biegenden Tischen. Sie hat die Kalorienwerte aller Nahrungsmittel im Kopf und verrechnet sie blitzschnell mit dem aktuellen Angebot und der mageren Tagesration, die sie sich zugestanden hat: „Wieviele Kalorien hat eine Hostie. Gäbe es noch Brot und Wein bei der Eucharistie, Dali würde die Kommunion ausfallen lassen.“ Der Mensch lebt nicht vom Brot allein – der Bibelspruch erfährt eine paradoxe Abwandlung. Denn die Kasteiung führt keineswegs zur spirituellen Befreiung, sie rückt das Brot erst recht ins Zentrum des Bewußtseins, läßt keinen Platz mehr für anderes.
Der Leser begleitet den Passionsweg des Mädchens im Auf und Ab der Waage, bis hinunter zu unglaublichen 34 Kilo bei einer Größe von 1 Meter 76. Immer mehr schottet sich Dali gegen ihre Umgebung ab: Hungern ist asozial. Ausreden müssen erfunden, Essen muß unauffällig beseitigt werden. Der Freund wird zusehends zur Belastung, muß beruhigt und ausgetrickst werden. Die Liebe wird der Kranken in jeder Hinsicht zu anstrengend, das Frausein auch, mit der körperlichen Auszehrung bleibt die Menstruation aus. Zwischendurch gibt es immer wieder Phasen der Normalisierung, Dali wird schwanger, heiratet, verliert das Kind, verliert sich aufs neue im Kiloverlieren.
Offenkundig ist das Hungern ein Mittel, eisernen Willen, Selbstbeherrschung und Überlegenheit zu demonstrieren. Was Stärke vermitteln soll, wird unübersehbar zur Schwäche. Und natürlich bedeutet der ständig präsente Hunger auch Hunger nach Liebe. Die Familienkonstellation bleibt umrißhaft: Da gibt es einen toten Vater, der noch immer als Spiegel für das Selbstbild fungiert, vor dem sich die Tochter bewähren will. Und eine allzu patente Mutter, die sie als Rivalin erlebt. Abnehmen heißt wohl auch schwinden, verschwinden, mitsamt all dem Unerledigten.
Diese Erkenntnisse drängt Helene Flöss freilich nirgends auf. Präzise und unaufdringlich, quasi mit Bleistift zeichnet sie die Gedanken- und Erlebniswelt der Kranken nach, bewegt sie sich – auch sprachlich – sicher in ihrer Südtiroler Heimat. Flöss hat eine, was den Umfang betrifft, magere Erzählung geschrieben, ein entschlacktes, geradezu skelettiertes Stück Prosa, das seinem Objekt kongenial angemessen scheint.