Dunkelblum ist ein gesitteter Ort. Einst wohnten die ländlichen Bewohner im Schlagschatten des Schlosses. Auf diesem wurde noch im März 1945, also in den letzten Kriegstagen, eine orgiastische Festivität gefeiert. Inklusive nächtlichem Abtransport der Zwangsarbeiter an den Waldesrand, wo anschließend Schusssalve auf Schusssalve zu hören war. Dieses wie viele andere Geheimnisse, von denen einige gar nicht so geheim waren, wabern durch den Ort, als weitergesponnenes Netz.
Eva Menasse erzählt also ein Lokal- wie ein Historienpanorama. Dies jedoch mehr vertikal denn horizontal. Jüngst sind einige Studenten in Dunkelblum angekommen, die sich vorgenommen haben, sich des seit Jahrzehnten verfallenen und vollständig zugewucherten jüdischen Friedhofs anzunehmen, ihn in Ordnung zu bringen, die Grabsteine zu pflegen und zu restaurieren. Das ist aber nicht das Einzige, was, als sanfte Wellenbewegung aus der Ferne angekommen, sich zu einem veritablen Sturm zusammenbraut. Es gibt Streit um die Wasserversorgung: dem nächstgrößeren Wasserverbund sich anschließen oder eigene Quellen im Ort erforschen und Brunnen in die Tiefe bohren? Da ist zudem der ältere, soignierte Herr, der aus Amerika angereist ist, Gellért mit Nachnamen, der so auffällig viele Fragen stellt, vor allem nach den Juden, die bis 1938 in Dunkelblum lebten, dann vertrieben und in unsichere bis tödliche Fluchtschicksale hineinexpediert wurden. Da ist Flocke, die jüngste Tochter des erfolgreichen Biowinzers, den die anderen Weinbauern, die allesamt infolge des Zuckerskandals in Konkurs gingen, noch immer scheel und neidisch anschauen. Da ist der Werber, der zurückkehrt nach Jahren in der Großstadt, weil seine Mutter, beliebt im Ort, urplötzlich mit 65 Jahren verstarb und er nun das kleine Haus besitzt, in dem sie in der letzten Zeit der Dorfhistorie vor allem der 1930er und 1940er Jahre nachgegangen ist. Da ist der Bürgermeisterstellvertreter, der jäh in die Verantwortung geschleudert wurde, weil der eigentliche Bürgermeister krebskrank ins Spital kam. Da ist der altgediente Allgemeinmediziner, der seit den frühen 1940er Jahren in Dunkelblum ordiniert – sein Vorgänger, der angesehene Dr. Bernstein, wurde von den eifrigen, teils extrabrutalen Nationalsozialisten der Kommune noch Jahre nach 1938 im Ort, auffällig unauffällig, in einem Hotelzimmer versteckt, um die medizinische Grundversorgung zu sichern. Und da ist der große Haufen an einstigen Nazis, die nunmehr Altnazis sind, die noch immer das große Wort führen und rassistische, fremdenfeindliche Suaden schwingen, eine bestimmte blaue Partei wählen, die es sich allesamt nach 1938 und dann wieder ab 1945 „g’richt“ haben, erfolgreich opportunistisch lavieren, im Kern ihre tiefbraunen Überzeugungen behalten.
Eva Menasse schlägt in ihrem makrokosmischen Roman eines Mikrokosmos einen infam zutraulichen Ton an. Dieser Duktus scheint einfach zu sein. Und ist in seiner multiplen Ambivalenz umso höhnischer und bloßstellender. Manchmal mutet das Ganze an wie ein pervertiertes Kasperlespiel, dann wiederum wie eine schwarze Moritat. Dass genau das Schwellenjahr 1989 gewählt wurde, ist außerordentlich klug. Denn tatsächlich gerät die Welt und mit ihr auch Dunkelblums starre Landschaft in einen wirbeligen Umbruch. Ein erster DDR-Flüchtling, der es über die ungarisch-österreichische Grenze geschafft hat, taucht auf. Bald wird heftig disputiert, was nun geschehen soll. Dann wird nach und nach das Mysterium um den Herrn aus Amerika aufgedeckt, ebenfalls weitere Geheimnisse um Totgeschlagene und Begrabene, die noch immer, sichtbar für jene, die darum wissen, wie beispielsweise der Gemeindearzt, im Ort vor sich hin simmern.
Ganz am Ende verweist Eva Menasse, die in Berlin lebende Wienerin, auf Termini des im Burgenland lebenden Essayisten, Reporters und Zeithistorikers Martin Pollack, vornehmlich auf seinen Begriff der „kontaminierten Landschaften“.
Martin Pollack führte diesen vor einigen Jahren in einem Aufsatzband näher und prägnant aus: „Die Landschaften, von denen ich hier spreche, sind immer von Menschen geprägt und gestaltet, manchmal sind diese Eingriffe ganz deutlich sichtbar, dann wieder weniger, sodass wir meinen könnten, wir hätten es mit unberührter, »unschuldiger« Natur zu tun. Aber Landschaft, wie wir sie kennen, ist immer von Menschen erschaffen. Dessen sind wir uns zwar bewusst, wenn wir den diffusen, mit Emotionen aufgeladenen Begriff nüchtern betrachten, doch im nächsten Moment lassen wir schon wieder unseren Gefühlen die Zügel schießen. Denn unser Verständnis von Landschaft hat viel mit Empfindungen zu tun. Und mit Imagination. Und nicht zuletzt auch mit Erinnerung. Ich spreche in diesem Zusammenhang von kontaminierten Landschaften. Damit meine ich Landschaften, die Orte massenhaften Tötens waren, das jedoch im Verborgenen verübt wurde, den Blicken der Umwelt entzogen, oft unter strenger Geheimhaltung. Und nach dem Massaker unternehmen die Täter alle erdenklichen Anstrengungen, um die Spuren zu tilgen. Lästige Zeugen werden beseitigt, die Gruben, in die man die Toten geworfen hat, werden zugeschüttet, eingeebnet, in vielen Fällen wieder begrünt, sorgfältig mit Büschen und Bäumen bepflanzt, um die Massengräber verschwinden zu lassen. Die Gräber werden versteckt, sie werden camoufliert.“
Camouflage und Bloßstellung, Geheimnis und Bösartigkeit, Erinnerung und Lebenslüge, Geschichtslüge, die Lügenkolportage eines ganzen Landes – damals war ja noch Kurt Waldheim Bundespräsident –, all dies wird leichthändig und dabei in einer beklemmend satirischen Manier präsentiert, die die Figuren einerseits dem Publikum nahebringt und durch diese andererseits jene decouvriert, die sich dazu verleiten lassen. Ein ehrgeiziges, hinreißend mokantes Erzählvorhaben, das von Eva Menasse beeindruckend gemeistert wird.