// Rezension von Michaela Schmitz
„Die Hoffnung ist ein Arschloch.“, sagt Johanna. Die Bloggerin ist nicht zimperlich. Weder mit sich noch mit anderen. Ihr Stil ist krass, sarkastisch und obszön. Johanna liebt es zu provozieren. Mit dem, was sie schreibt, und mit dem, was sie tut. Johanna ist eine Getriebene, die sich hinter ihrer perfekt inszenierten virtuellen Fassade versteckt. Nur ihr Logbuch weiß, wer sie wirklich ist. „15 / 44 / 31“ steht da. Das sind die Maße von Jo’s Handgelenk, Oberschenkel und Hals. „Wenn du weißt, wie viel du bist und wie breit und groß und schwer, dann kannst du auch beweisen, dass du bist. Dass du nicht weg bist.“, meint Jo. Jetzt ist sie Mitte Dreißig. Und reist schon ihr halbes Leben ihrer großen Jugendliebe Raffael hinterher. Einer fatalen Leidenschaft, in der sich Lust und Schmerz bis an den Rand der Selbstzerstörung überschneiden. Johannas Sehnsucht nach Liebe trifft sich in der Beziehung zu Raffael mit ihrer Todesssehnsucht. Die sie seit dem tödlichen Autounfall ihrer Eltern vor 18 Jahren nicht loslässt.
Kurz nach dem Unfall, im letzten Jahr vor der Matura, hatten sie sich damals kennengelernt. Johanna, Raffael und Moritz, die beiden Blutsbrüder. Im Gymnasium in Hallein, wo Johanna nach dem Tod ihrer Eltern bei der Tante unterkam. Dabei hatte Moritz damals lange Zeit gedacht, sie habe sich für ihn entschieden. Für ihn, den schüchternen und gutmütigen Motz. Nicht für Raffael, den attraktiven Sohn des Bankdirektors; blond und mit so blauen Augen, dass alle Mädchen ihm sofort verfielen. Kein Wunder. Moritz selbst war dem Freund ja seit Kindergartentagen beinahe hörig. Raffael war eben der klassische Siegertyp. Aber dieses eine Mal, hatte Moritz damals geglaubt, hätte er über Raf gesiegt. Davon war er überzeugt. Bis Johanna ein Jahr nach der Matura plötzlich von ihm fortging. Genauso wie Raffael im Jahr zuvor blieb sie verschwunden. Dabei hatte Moritz nur für Johanna seinen Traum vom Kunststudium in Berlin aufgegeben. Der sensible Synästhetiker, der die Aura der Menschen als sinnliche Farb- und Geruchs-Explosionen wahrnimmt, hatte ihrer Beziehung seine Leidenschaft für das Zeichnen geopfert. Um Geld zu verdienen für eine Zukunft mit Johanna, war er als Ungelernter auf den Bau gegangen. Sein Vater, der Dorfarzt, hatte ihn dabei unterstützt.
Seiner Mutter Marie dagegen war Motz‘ Beziehung zu Johanna nicht geheuer. Genauso wenig wie seine Freundschaft zu Raffael, dessen schon als Kleinkind auffällig bösartiges Verhalten ihren Unmut erregt. Dabei war Raf das genaue Ebenbild seines Vaters. Mit dem Marie über Jahre hinweg eine erotische Affäre unterhält. Ein Grund mehr, Rafs Mutter Sabrina, dem depressiven Ex-Model, aus dem Weg zu gehen. Wie sie selbst hatte es Sabrina mitten aus ihrer Karriere mit zwei kleinen Kindern in das einsame Bergdorf bei Salzburg verschlagen. Ein Ort, der zu klein zu sein scheint für all die ungelebten Träume der Menschen, die dort wohnen.
Moritz ist trotzdem bis heute geblieben. Hat sich im Baumanagement hochgearbeitet bis zum Geschäftsführer. Und erwartet jetzt sein erstes Kind mit Kristin, mit der er in Hallein zusammen wohnt. Die Familienidylle wäre perfekt, wenn nicht urplötzlich Raffael wieder aufgetaucht wäre. Nach sechzehn Jahren Funkstille. Kristin ist sein Besuch nicht geheuer. Sie zieht sich zu ihrer Freundin zurück. Wenig später steht auch noch Johanna vor Moritz‘ Tür. Und für kurze Zeit scheinen die drei Freunde in ihre alten Rollenmuster zurückzufallen. Und Motz kann, wie früher, plötzlich wieder ihre Farben sehen. Bis zur Stunde der Wahrheit, die Moritz mit einem Schlag die Augen öffnet: für das, was sich hinter Raffaels Dunkelgrün und Johannas doppeltem Gelb verbirgt.
Sie „stehe auf Sätze, die wie Messer sind“, gesteht Mareike Fallwickl in einer ihrer Rezensionen. Wie Messer sind auch Fallwickls eigene Sätze in ihrem Debüt Dunkelgrün fast schwarz; vor allem, wenn Johanna spricht oder Raffael. Bei Moritz oder Marie dagegen wird die Sprache zum Aquarellpinsel, mit dem die Autorin feinste Seelen-Schattierungen nachzeichnet. Ich-Erzählerin Marie wirkt von allen Stimmen am authentischsten. Doch gerade die starke Diskrepanz gegensätzlicher Tonlagen in Dunkelgrün fast schwarz macht den besonderen Reiz und die Spannung von Fallwickls Debütroman aus. Besonders in den Sex-Szenen kommt Fallwickls Sprache oft hart, zynisch, ja fast pornographisch daher. In anderen Passagen dagegen findet sie zärtliche und ausgesprochen sinnliche Sprachbilder für komplexe emotionale Innenräume. Beinahe beängstigend professionell für ein Debüt ist auch die Erzählkonstruktion von Dunkelgrün fast schwarz: der exakt getimte Wechsel hart aneinander geschnittener Erzählperspektiven, die nur scheinbar wild zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her hüpfen. Tatsächlich sind es passgenau zugeschnittene Mosaiksteine, die sich unmerklich zu einer spannenden Story zusammenfügen. Die junge Autorin Mareike Fallwickl zeigt bereits in ihrem Erstling Dunkelgrün fast schwarz, dass sie ihr Schreibhandwerk erstaunlich gut beherrscht. Ein bemerkenswertes Debüt!
Mareike Fallwickl Dunkelgrün, fast schwarz
Roman.
Frankfurt am Main: Frankfurter Verlagsanstalt, 2018.
480 S.; geb.
ISBN 9783627002480.
Rezension vom 05.03.2018
Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.
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