Diese der eigentlichen Handlung vorgelagerte, gegenwärtige Ebene verweist – gemeinsam mit den eher ungewöhnlichen Gattungsbegriffen „Realfarce“ und „Lesedrama“ – von Anfang an darauf, wie sehr sich Schindel der schwierigen Frage nach der Darstellbarkeit und Erzählbarkeit von unvorstellbarem Grauen, die jeden Text über die Shoah begleitet, bewusst ist. Und gleichzeitig schärft Schindel über diese zusätzliche Ebene die Aufmerksamkeit seiner Leser/innen für die Geschichte der Wiener Judenräte, die uns in Form einer Rückblende erzählt wird.
Vor allem in der ersten Hälfte liest sich das Drama mehr als das Drehbuch eines Films denn als Theaterstück: Wir lernen die Protagonist/innen an verschiedenen Schauplätzen im Wien der späten 1930er Jahre kennen: beim Kartenspielen im Kaffeehaus, in einer Zelle im Wiener Landesgericht, in der Synagoge, in den Büroräumen der israelitischen Kultusgemeinde. Wir haben daran teil, wie die Wiener Juden öffentlich schikaniert werden, etwa wenn sie dazu gezwungen werden, mit Zahnbürsten die Straßen zu putzen. Wir sehen an exemplarischen Schicksalen, welche Auswirkungen die kontinuierlich zunehmenden Repressionsmaßnahmen auf das Alltagsleben der Einzelnen haben. Dank der ausgefeilten, mit jiddischen Wendungen (die in einem Glossar freundlicherweise übersetzt werden) gespickten Sprache und der dokumentarisch wirkenden Erzählweise wird der Eindruck von Authentizität erzeugt, auch wenn diese durch die vorgelagerte Filmebene stets als relativierte Authentizität, als „so könnte es gewesen sein“, erscheint.
Die Fokussierung auf den Charakter des Saul Dunkelstein erfolgt erst nach und nach, vor dem Hintergrund der Zuspitzung der allgemeinen Lage. Dunkelstein ist Mitarbeiter der israelitischen Kultusgemeinde und wird ab 1938 zum Leiter von deren Auswanderungsabteilung. Wir lernen ihn als jemanden kennen, der dazu bereit ist, in Fragen der Moral den schwierigeren Weg zu gehen (er hätte auch eine Stelle als Rabbiner in der Schweiz annehmen und den anstehenden Entscheidungen ausweichen können), und der mit einer außergewöhnlichen Weitsicht ausgestattet ist.
Diese Weitsicht befähigt Dunkelstein zu erkennen, dass die Auswanderung die einzige Möglichkeit darstellt, um die jüdischen Bürger/innen in Sicherheit zu bringen: Und für dieses Ziel ist er bereit, mit den Nazibehörden, die sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht für die Massenvernichtung als „Endlösung“ entschieden haben, zu kooperieren. Unter seiner Leitung werden die bürokratischen Hürden für die Auswanderung mittels der Gründung einer Zentralstelle herabgesetzt und 40.000 Juden erhalten die Chance, in einem anderen Land neu zu beginnen, wobei sie den Verlust ihrer materiellen Güter für den Erhalt eines Visums in Kauf nehmen müssen. Schon in dieser Phase des Stücks begegnen viele Wiener Juden dem konsequenten, direkten Dunkelstein, der das Vertrauen der Nazibehörden nicht für „Sentimentalitäten“ aufs Spiel setzen will, mit Abscheu.
Doch erscheint diese Zeit in moralischer Hinsicht als harmloses Vorspiel gegenüber der bevorstehenden Phase der Deportation „ins Verderben Tod“, die Dunkelstein nun ebenso wie die Auswanderung organisieren soll. Darf er die Nazis hierbei unterstützen? Darf er seinen Einfluss nutzen, um Einzelne – die in Wien noch gebraucht werden oder für die vielleicht noch eine Fluchtmöglichkeit besteht – von den Deportationslisten zu streichen, obwohl er weiß, dass die Nazis den durchgestrichenen Namen durch einen anderen ersetzen werden? Macht er sich mitschuldig, wenn er die Juden in ihren Wohnungen zur Deportation abholt, auch wenn er damit verhindert, dass sie bereits dort den Grausamkeiten der Nazis ausgeliefert sind?
In einem eindringlichen Monolog Dunkelsteins werden uns diese Fragen vor Augen geführt. Dabei zeigt sich vor allem seine Machtlosigkeit und Handlungsunfähigkeit, die hier stellvertretend für die allgemeine Situation der Judenräte in dieser Zeit erscheint. Dunkelsteins außergewöhnliche Weitsicht erweist sich in diesem Zusammenhang gerade nicht als unrealistisch anmutende Form der Charakterisierung, sondern als klug gewähltes Mittel zur Verschärfung der moralischen Fragestellung.
Doron Rabinovici: „Schindel spitzt zu, um die Fragen noch schärfer stellen zu können. Er stattet Dunkelstein mit einem Wissen über die Vernichtung aus, […] mit einer Gewissheit, über die wir nur im Nachhinein verfügen, aber eben durch diesen Kunstgriff beweist der Autor, was keine Forschung bekunden könnte: Selbst aus der gesicherten Position der Nachgeborenen eröffnet sich keine Handlungsalternative.“ (S.116)
Dunkelstein schließt seinen Monolog mit einer Hoffnung, die er trotz des Gefühls der Ohnmacht in seine Tätigkeit setzt: „Weil ich womöglich einen retten kann? Weil Gott ein Wunder tut?“ (S.88) An dieser Stelle berühren sich Schindels fiktionales, aber auf historischen Personen basierendes Lesedrama und die wirkliche Realität: Robert Schindel selbst, Kind jüdischer Kommunisten, wurde als Baby auf ähnliche Weise von Mitarbeiterinnen der jüdischen Selbstverwaltung gerettet. Dieser Sachverhalt, der sich wiederum in der Film-Ebene des Stücks spiegelt, befreit das Ende von Dunkelstein von dem Vorwurf, es könne sich hier um ein typisches Hollywood-Happyend handeln.
Im Gegenteil sind wir auf den letzten Seiten wieder dort, wo wir am Anfang waren: Beim schwierigen Verhältnis von Realität und Fiktion, bei der Frage, ob aus historischen Ereignissen dieser Dimension Literatur gemacht werden darf, die neben vielen anderen Funktionen auch unterhaltenden Charakter hat. Vielleicht ist Schindels Herangehensweise an diese Problematik der beste Grund für eine Leseempfehlung von Dunkelstein: Schindel zeigt, dass ein literarischer Text, gerade weil er sich von den historischen Fakten entfernen darf, gerade weil er seinen eigenen fiktionalen Charakter in sich selbst reflektieren kann, uns an historischen Ereignissen auf eine Weise teilhaben lässt, die uns gleichzeitig zu unmittelbar und emotional Beteiligten und im Rückblick Reflektierenden macht. Dunkelstein geht einem nicht so schnell aus dem Kopf.