Der Untertitel des Buches enthält das Programm: „Kulturtransfer“-Forschung ist ein Konzept, das französische und deutsche Germanisten (Michel Espagne, Michael Werner, Gérard Noiriel u. a.) in den achtziger Jahren in Frankreich entwickelt haben, um die herkömmliche Frage nach transnationalen Kultureinflüssen neu zu formulieren. Es geht dabei gerade nicht mehr um die Frage nach „Einflüssen“, die immer auch den negativen, wertenden Beigeschmack von „Beeinflussung“ und damit eine Hierarchisierung von Sender und Empfänger impliziert, sondern um den Wechsel (Transfer) von einzelnen Elementen aus einem kulturellen Kontext in einen anderen. Jene, die das jeweilige Kulturgut übertragen und übernehmen, werden in diesem Verständnis nicht als passive „Empfänger“ gesehen, sondern als initiativ, zumindest aktiv Handelnde. „Verstehen sie das übertragene Kulturgut anders, als man es an dem Ort tut, wo es herkommt, so gilt das nicht als bedauerliches Mißverständnis, sondern als kreativ, produktiv und im Grunde genommen selbstverständlich.“ (Angerer, S. 15) Das mag aktuellen Befindlichkeiten entgegenkommen, die Fragen nach „letzten Wahrheiten“ (was bedeutet ein bestimmtes Element, eine bestimmte Theorie ursprünglich „wirklich“?) gerne zugunsten von additiven Inventarisierungen beiseite schieben. Für die kulturellen Übertragungen von Frankreich nach Österreich seit 1945 ergibt sich daraus im vorliegenden Band aber eine produktive Fülle von ersten Analysen und Befunden zu einem bislang wenig erforschten Bereich.
Der Grundtenor der Ergebnisse ist wohl wenig überraschend. Die gezielte und aktive Kulturpolitik Frankreichs in Österreich nach der Befreiung vom Faschismus und der enorme Nachholbedarf der heimischen Intellektuellen, die mehr als ein Jahrzehnt von der Moderne radikal abgeschnitten waren, verliehen der französischen Kultur zunächst eine maßgebliche Anziehungskraft. In der Folge führte die allmähliche Ablöse der Kulturmetropole Paris durch Hollywood und New York ebenso wie die zunehmende Ausrichtung Österreichs auf Deutschland, wo die Amerikanisierung der Gesellschaft viel früher umfassend Platz gegriffen hatte, zu einer zunehmenden Orientierung des kulturellen Milieus auf die USA, nicht nur was die Ebene der Alltagskultur betrifft. Dienten Anleihen bei der französischen Avantgarde in der Nachkriegszeit als Anstoß für Neuorientierung und nachzuholende Modernisierungsschübe (analysiert am Beispiel Graz von Johannes Feichtinger), ging diese energetische Rolle in der Folge mehr und mehr auf Amerika über. Diese grundlegende Tendenz wird in den mehr als zwanzig Beiträgen, zum Teil unter Einbezug von erstmals gesichtetem Quellenmaterial, in einer Fülle von Aspekten greifbar. Das Spektrum reicht von der offiziellen Kulturdiplomatie über institutionelle Implikationen des Kulturbetriebs bis zu Analysen der verschiendenen Kunstsparten. In kompakten und sorgfältig aufbereiteten Darstellungen kann man sich unter anderem über folgende Teilbereiche informieren: die Geschichte der französischen Kulturinstitute in Wien und Innsbruck (Barbara Porpaczy), des Lycée Français de Vienne (Jean-Michel Casset) und der österreichischen Französistik (Siegfried Loewe); über französisches Theater auf Wiener Bühnen (Susanne Albrecht), die französische Sprach- und Schulpolitik in Österreich (Michaela Feurstein), das Frankreichbild in österreichischen Schulbüchern (Philippe Gustin) oder in der Zeitschrift „Plan“ unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (Gloria Withalm). Zwar ist, wie die Herausgeber berichten, zum Teil aus organisatorischen Gründen, zum Teil aufgrund unglücklicher Umstände ein Aufbrechen der Orientierung an der Hochkultur in dieser ersten Bestandsaufnahme nicht geglückt – Bereiche wie Mode, Essen, Auto, Freizeitkultur etc. konnten nicht mehr berücksichtigt werden. Immerhin finden sich aber mit den Beiträgen zum Einfluß der franzöischen Filmkultur (Franz Grafl) und des Chansons (Andrea Oberhuber) zwei Aspekte, die zumindest im Zwischenreich der Spaltung in E- und U-Kultur angesiedelt sind. Wie verschlungen die Wege des Kulturtransfers sein können, zeigt Michael Wiesmüller am Bespiel der jüngeren französischen Philosophie in Österreich, einer „Rezeption zweiten Grades“. Interessant auch die beiden Versuche, den Literaturbetrieb nach französischen Einflüssen zu untersuchen. Michael Klein liefert einen ersten Beitrag zu Rezeption französischer Gegenwartsliteratur mit einer quantitativen Auswertung der medialen Rezeption im Feuilleton von sechs österreichischen, deutschen und Schweizer Zeitungen für die Jahre 1989 bis 1993 (die Besonderheit der dreisprachigen Schweiz muß dabei zu etwas differenzierteren Interpretationen führen). Ursula Mathis-Moser untersucht die Präsenz französischer Autoren in heimischen Verlagen, wobei grundlegende Gegebenheiten des Verlagswesens (etwa Spezifika der österreichischen Verlagsförderung, ökonomische Implikationen des Lizenzgeschäftes usw.) eher ausgeblendet bleiben. Das sind unvermeidliche Lücken bei bislang negierten Forschungsbereichen, wo erste Bestandsaufnahmen immer auch dazu dienen, Defizite und Desiderata für weiterführende Forschungsarbeiten zu formulieren und aufzuzeigen. Und das ist ein Befund, der für den Bereich der Kulturtransfer-Forschung insgesamt gilt, weshalb mit den Herausgebern auf eine Weiterfürhung des Projektes zu hoffen ist.