So sei auch die Stadt, das Oberflächliche, der Schleier müsse erst einmal gelüftet werden, die Essenz halte sich bedeckt. Und die Essenz ist für sie, die 1981 erstmals wieder einen Fuß auf österreichischen Boden setzte und seit 2001 als Rabbinerin in ihrer Geburtsstadt Wien tätig ist, eine ganz besondere, komplexe, der sie nun literarisch in ihren Erinnerungen nachspürt.
Nur die ersten vier Jahre ihres Lebens hatte sie in Wien verbracht. 1938 flüchtete die Familie nach Holland und hielt sich dort bis zum Ende des Krieges versteckt. Ihre „Rückkehr“ – allein das Wort stellt sie schon gern in Frage – gestaltete sich auch Jahrzehnte nach dem Holocaust naturgemäß nicht gerade einfach. Der zweite Bezirk, die ehemalige „Mazzesinsel“, auch heute „jüdisches Viertel“, hat sich verändert. Die Menschen, die hier leben, haben viele Schicksalsschläge hinnehmen müssen. Ebenso wie sie selbst. Und trotz allem versucht sie stets das Positive zu sehen.
Tiefe Religiosität ist ihre Art, mit der Vergangenheit und dem Leben umzugehen. Während ihres Studiums und ihrer Tätigkeit als Dozentin habe man sie des öfteren als „religiöse Denkerin“ bezeichnet – als „Träumerin“ ergänzt sie sofort ironisch. Und sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen, das sei die Konsequenz daraus gewesen, die die „orthodoxe unorthodoxe Rabbinerin“ bis heute daraus zieht. Die unermüdliche Suche nach einem Miteinander ist der Autorin eine weitere „Lehre“, die das Leben ihr mit auf den Weg gab.
Wer sich von Eine Rabbinerin in Wien eine Art Autobiographie erwartet, wird enttäuscht werden. Auch vom Alltag und den damit verbundenen Schwierigkeiten, die eine Frau zu bewältigen hat, die heute mit der Seelsorge einer jüdischen Gemeinde betraut ist, erfahren wir nur am Rande. Der Untertitel „Betrachtungen“ ist keineswegs zufällig gewählt, und nicht selten sind diese Betrachtungen geistlicher Natur.
Eveline Goodman-Thau erzählt liebend gern chassidische Geschichten, philosophiert über Glaubensfragen, die für weniger oder nicht Religiöse vielleicht nicht immer nachvollziehbar oder von Belang zu sein scheinen, aber sie schafft es doch, selbst atheistische LeserInnen mit ihrer versöhnlich-sympathischen Lebensweisheit bei der Stange zu halten, da sie kaum jemals aufdringlich wirkt – oder beeindruckt schlicht und einfach als gute Erzählerin.
Als „begnadete Rednerin“ bezeichnet sie sich sogar einmal selbst. Was auf den ersten Blick wie Aufschneiderei klingen mag, wird schnell glaubhaft bei der Lektüre ihres Buches. Die Rabbinerin hat nicht nur mündlich, sondern auch schriftlich ihre Sprache gefunden – eine mit hebräischen und jiddischen Begriffen gewürzte Sprache (das Glossar am Ende erweist sich in vielen Fällen als hilfreich), manchmal ein wenig altmodisch anmutend, an anderen Stellen mit englischen Ausdrücken durchsetzt, eine poetische oder auch ganz schlichte Sprache, die sich stets dem anpasst, was sie uns vermitteln will, und den sehr unterschiedlichen Betrachtungen einer vielseitigen Frau entspricht, die ein bewegtes Leben hinter sich und noch viele Aufgaben zu bewältigen hat.