Während er sich immer mehr in eine besitzergreifende Besessenheit verstrudelt, wirkt Ines distanziert, abwesend, mit den Gedanken woanders. Über Ines selbst erfährt man nicht viel, außer dass der Protagonist Jan ihr eine Zeit lang verfällt, wie offenbar auch Flor und – vielleicht am schicksalhaftesten – Beham, der Baubeauftragte der Gemeinde. Ines‘ Persönlichkeit bleibt, obwohl sie es ist, die die Geschichte in Gang setzt, unscharf, wie durch dickes Fensterglas beobachtet. Die Figuren, denen Jan begegnet, sind Rätsel – zumindest für ihn selbst. Der Fokus verschiebt sich spielerisch von der einen zur anderen, je nachdem für wen sich Jan gerade am meisten interessiert. Sprachlich evokativ und präzise lässt die konsequente Ich-Perspektive, aus der der Roman erzählt wird, jedoch nicht zu, dass sich das wortkarge Personal erklärt, die Dinge klarstellt. Die Beziehungen zueinander verändern sich ständig, jeder verfolgt seine eigenen Agenden, ohne diese je auszusprechen.
Jan ist, wie sich bald herausstellt, nicht der einzige nächtliche Besucher von Ines. Er stößt auf seinen Konkurrenten Flor, einen Schweinebauern, der sich einen Kleinkrieg mit Beham liefert, es geht um eine Baugenehmigung und ein enteignetes Grundstück. Eifersüchtig und voller Abneigung gegenüber Flor heuert Jan als ‚Praktikant‘ auf dessen Hof an. Bald flaut die Leidenschaft zu Ines ab, stattdessen taucht ein neues Gefühl auf: die unruhige Gier etwas zu erfahren über Flor und Ines, über Flor und sein arbeits- und entbehrungsreiches Leben mit seiner Frau am Hof, getrieben von der Ahnung, dass sich hier eine größere Geschichte verbirgt, von dem Verlangen hinter ein Geheimnis zu kommen. Ein Gefühl, das Jan kennt, aber lange vermisst hat:
„Was mich hierhergebracht hatte, war eindeutig gewesen: eine einmalige, mir selbst rätselhafte Aufwallung. Als sie sich gelegt hatte und ich geblieben war, sah ich den Grund dafür bloß noch vage […]. Jetzt sah ich die Dinge wieder klarer. Es gibt da noch mehr zu holen, dachte ich, deshalb bleibe ich. Dabei hatte ich aber nicht etwa Geld im Kopf, vielmehr war es ein Gefühl, das geweckt wurde und das mir gefiel, weil es sehr ähnlich war jenem lebenshungrigen, lustvollen, das den jungen Journalisten, der ich vor einer Ewigkeit gewesen war, regelmäßig befallen hatte, wenn er, fast als wäre er ein Detektiv, an einer größeren Geschichte dran gewesen war, und das ich seither nie wieder hatte empfinden können; Erinnerung oder Wiederholung; Nachlauf; seltsam verzerrtes Echo; von leisem Freudenschauer begleitetes Nachhausekommen.“
Überhaupt ist der Roman, der als Rückschau Jans erzählt wird, voll von Ahnungen und Andeutungen. Ausgesprochen wird kaum etwas, was die Verhältnisse aber nicht weniger klar macht. „Er kann grausam sein“, sagt etwa seine Frau Hemma über Flor und belässt es dabei. So entsteht eine bedeutungsschwere Atmosphäre, das Gefühl des kurz bevorstehenden Untergangs wird mit jeder Seite intensiver, die Schlinge zieht sich zu, es wird enger und enger. Mehr als einmal befällt Jan das leise bedrohliche Gefühl sich in einem Theaterstück zu befinden, dessen Handlung im Verborgenen liegt: „Stattdessen hatte ich plötzlich den Eindruck, mir werde etwas vorgespielt, von dem ich nicht wusste, was es sollte.“ Auch seine tote Tante erscheint Jan ab und zu und weist ihn zurecht, wie sie es in seiner Kindheit getan hat, und verlangt dabei „auch in ihrer Form als Geist auf jede Frage eine Antwort“ mit einem „untrügliche[n] Gespür für Ausflüchte, Ungenauigkeiten, Lügen, die sie nicht durchgehen ließ“. Mit der Tante wird Jans Unbehagen und Irritation ein Bild gegeben. Auch sie ist eine dieser Ahnungen, dass etwas nicht stimmt in den Leben dieser Menschen, und am Ende gibt es zwei Tote.
Der Roman endet wie er beginnt, in der Sommerhitze des nächsten Jahres, und erst jetzt kommt Licht in die Geschichte. Die Konstruktion fügt sich mühelos ineinander und die Zusammenhänge werden plötzlich offensichtlich. Offensichtlich wird auch die Rolle, die Jan spielt, nämlich jene des Zeugen – eines Zeugen, „den niemand brauchte, von dem niemand auch nur besondere Kenntnis nahm“. Aus einer anderen Welt kommend, beobachtet Jan mit den Augen des Außenstehenden, erzählt, was er gesehen oder oft auch nur vermutet hat.
In Enteignung versteht es Kaiser-Mühlecker, eine besondere Atmosphäre zu zeichnen und trotz des unaufgeregten Duktus einen eigentümlichen Sog zu entwickeln. Mit seinem Gefühl für die leisen sprachlichen Töne und für herbe zwischenmenschliche Dynamik jenseits romantischer Klischees lässt er einen Roman entstehen, der nachhallt.