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Ernste Fragen

Erwin Chargaff

// Rezension von Daniela Strigl

Erwin Chargaffs schönes Czernowitzer Deutsch kann man leider in diesem Buch nicht hören. Noch dazu legt die – sonst sehr gute – Übersetzung von Joachim Kalka dem Autor so völlig wesensfremde Wörter wie „Blödmann“, „Quark“ oder „quasseln“ in den Mund.

Erwin Chargaff ist heuer im August 95 geworden. Die vorliegenden Essays hat er als Achtzigjähriger auf englisch publiziert. Die alphabetische Sammlung, von „Amateur“ bis „Zauberflöte“ geht auf Stichwörter zurück, die Chargaff in seinem Notizbuch vermerkt hat. Der Altösterreicher wurde in den USA als einer der führenden Biochemiker zum Wegbereiter der Gentechnik und bekehrte sich vom Saulus zum Paulus, zu einem radikalen Kritiker des bedenkenlosen Fortschritts. In seinem Buch „Das Feuer des Heraklit“ hat er diese Entwicklung beschrieben. Erwin Chargaff ist die personifizierte Antithese zum Fachtrottel. Er, der Spezialist schlechthin, glaubt, daß die Welt allein durch Amateure zu retten sei. Es gelte endlich die „lächerliche Ehrfurcht vor dem Spezialistentum“ abzulegen, das vor den wesentlichen Fragen des Daseins versage.

Was Chargaff, der 1928 zum ersten Mal in die USA kam, dem politischen System seiner zweiten Heimat vorzuwerfen hat, liest sich vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Präsidenten-Feilschens höchst aktuell: Amerika laufe Gefahr, zu einer „totalitären Demokratie“ zu verkommen, die Politiker von heute seien „Spezialisten dafür, gewählt zu werden“ – und sonst nichts. Chargaffs Prosaperlen stammen aus der Reagan-Ära und haben dennoch keinen Staub angesetzt. Wenn sich auch die Angst vor der Atombombe verflüchtigt zu haben scheint: Die Tendenzen, die Chargaff im Aberwitz der Neuheiten, im tiefgefrorenen Embryo wie in der kommerziellen Weltraumbestattung, dingfest gemacht hat, bestätigen sich heute in ihrer schlimmsten Denkvariante.

Denn natürlich ist Erwin Chargaff ein Pessimist aus Überzeugung, ein, wie er selbstironisch meint, „Hausierer der Trübsal“. Mit aller Kraft stemmt er sich gegen den American way of life, und man fragt sich, wie er es dort nun schon fast siebzig Jahre ausgehalten hat – als ein Querkopf, ein Zeit-Dissident, der den Fernsehkonsum verweigert, die Meinungsindustrie verachtet, die Werbeflut haßt. „Panik et circenses“ lautet sein Resümee der Gegenwart. Politisch ein anarchischer Linker, ist Chargaff kulturell ein Konservativer, der mit der erzwungenen Verweiblichung der Sprache genauso seine liebe Not hat wie mit der zeitgenössischen Kunst. Er trauert einer Zeit nach, als Leidenschaften noch in Mode waren, und nennt zugleich das 18. Jahrhundert sein Lieblingsjahrhundert.

Chargaffs Position ist denn auch konsequent die des Aufklärers: Wie konnte Hitler, der sich anhörte „wie ein geistesgestörter Provinzfriseur, der ein paar Abendkurse besucht hat“, mit seiner Sprechweise Charisma vermitteln? Warum hat man ausgerechnet die griechische Bezeichnung für Brandopfer, „Holokaust“, als Synonym für das Unaussprechliche gewählt, als bequemes „Deckwort“, mit dem sich Geschäfte machen lassen? Was meinte Nietzsche, als er sagte: „Seit Copernicus rollt der Mensch aus dem Centrum ins x“? Was ist das x? Und was für einen Sinn hat es, nach der Unsterblichkeit zu fragen – da wir doch „endlos in der Sprache der Wissenschaft auf die Natur einreden, sie aber mit uns nicht spricht“. In all seiner Empörung hält Chargaff stets am gefährdeten Begriff des Humanen fest: Irgendwann in diesem verflossenen Jahrhundert haben für ihn die Kontrollmechanismen ausgesetzt, ist der Zug entgleist.

Es sind „ernste Fragen“, die sich Chargaff stellt, aber er beantwortet sie mit Witz, erfrischend unverblümt und behende. Als ein Prototyp des Amateurs gilt ihm schließlich Montaigne, der dem Essay, dem „Versuch“, seinen Namen gab. Vor allem aber erweist sich Chargaff, einer der letzten Krausianer aus eigener Anhörung, als ein würdiger Schüler seines Meisters: Stets betreibt er Zeitkritik als Sprachkritik. Gern beginnt er sein Flanieren mit einem Fund im Wörterbuch. Seine Neugier ist ansteckend, seine Bildung ehrfurchtgebietend; mit größter Selbstverständlichkeit blättert er im Homer wie im Werk Tolstois oder David Humes oder in den Gedichten der englischen Romantik, immer hat er mit seinen Zitaten etwas zu sagen. Schließlich widerlegt der unzeitgemäße jüdische Bürgersohn Erwin Chargaff das Menschenbild jener unsäglich dummen Industriekapitäne, die bei uns heute den Lehrplan „entrümpeln“ wollen: Chemie jedenfalls war in Chargaffs Wiener Gymnasium so gut wie kein Thema.

Erwin Chargaff Ernste Fragen
Essays.
Aus dem Englischen von Joachim Kalka.
Stuttgart: Klett-Cotta, 2000.
288 S.; geb.
ISBN 3-608-93420-0.

Rezension vom 15.12.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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