#Sachbuch

Erotische Literatur vor Gericht

Marianne Fischer

// Rezension von Evelyne Polt-Heinzl

Um 1900 gerieten die gesellschaftlichen Rollenbilder ins Wanken und damit jahrhundertealte patriarchale Gepflogenheiten. Sexualität wird problematisch und das Rästel Weib zum Thema. Die literarischen Verarbeitungen der Thesen von Sigmund Freud, Richard Krafft-Ebing oder Otto Weiniger und die Konstrukte von femme fragile und femme fatale sind in einer Vielzahl von Studien analysiert und durchdiskutiert worden.

Ebenso die Kritik der jungen Autorengeneration an Scheinmoral und Heuchelei der bürgerlichen Gesellschaft, die aus Mangel an lebbaren Konzepten für das Zusammenleben der Geschlechter Doppelmoral zum Prinzip erhob. Man tut es ab, war die bekannte Antwort von Schnitzlers Vater auf die sexuellen Probleme der Söhnegeneration, die Erfindung des süssen Mädels jene des Sohnes. Marianne Fischer liefert mit ihrer Darstellung des Kampfes gegen Schmutz- und Schundliteratur sozusagen das aktenkundig gewordene Unterfutter zu dieser Befindlichkeit um 1900. 1905 wurde in Wien – verglichen mit Deutschland etwas verspätet – der Verein „Volksaufklärung. Gesellschaft zur Verbreitung der guten Sitten“ gegründet, der von nun ab bis zu seiner Auflösung 1922 eifrig gegen bedenkliches Schrifttum und pornographisches Bildmaterial auftrat. In einer Fülle von „Eingaben“ gegen pornographische Buch- und Kunsthändler kämpft der wackere Verein für die Aufrechterhaltung der Sitten. Überraschenderweise entpuppt sich das über weite Strecken als Kampf gegen Windmühlen, wiewohl die Zeitstimmung und vor allem die polternden Teile der christlichsozialen Presse durchaus für die Saubermänner arbeiteten.

Doch das Kompetenzwirrwarr in den Behörden und Ministerien ist groß, und vor allem sind die bürgerlichen Gesetze der Marktwirtschaft flexibel und anpassungsfähig. Wird prozessual erstritten, dass abgeschlossene Schundheftchen nicht mehr unter das Kolportagegesetz fallen, d. h. nur im konzessionierten Buchhandel und nicht am Kiosk vertrieben werden dürfen, stellen sich die Produzenten flugs auf serielle erotische Geschichten und Bildfolgen um. Was Marianne Fischer nicht herausarbeitet wird in ihrer systematischen Darstellung trotzdem deutlich: wie Karl Kraus nicht müde murde nachzuweisen, ist Doppelmoral auch das Geschäftsprinzip des kapitalistishen Wirtschaftssystems. Was auf den Kulturseiten wortreich als Schund bekämpft wird, sorgt im Annoncenteil für willkommene Einnahmen.

Das belegen auch die ausführlich dargestellten Fallbeispiele, allen voran jenes der Brüder Wilhelm und Philipp Suschitzky, die als Verleger zahlreicher Publikationen der Arbeiterbewegung und als Juden ein besonders multiples agitatorisches Angriffsziel für Propagandakampagnen wider die Unmoral boten. Weitere Fallbeispiele sind Fritz Freund, dem Verleger von Arthur Schnitzlers Reigen gewidmet und dem großen Prozess gegen den Buchhändler Carl Wilhelm Stern nach einer Massenkonfiskation von 30.000 Büchern. Das Pikante an der Sache war auch, dass die Beschlagnahmung erfolgte, obwohl Stern alle Bücher vorher der Behörde vorgelegt hatte und zu seinem Abonnentenkreis viele prominente Namen und hochwohlgeborene Geister, auch aus dem kirchlichen Milieu, gehörten.

Die im Anhang beigefügten Anklageschriften und Eingaben runden den Sittenbericht mit anschaulichem Originalmaterialien ab. Es ist nur ein ganz kleiner Teil der Unmengen von Aktenbergen und Archivkladden, die die Autorin für ihre Arbeit – wohl zum Großteil zum ersten Mal – gesichtet hat. In dieser mühevollen Sichtungsarbeit liegt auch der Hauptverdienst der Arbeit, von der man sich vielleicht hin und wieder ein etwas stärker und freier interpretatives Vorgehen gewünscht hätte.

Marianne Fischer Erotische Literatur vor Gericht
Der Schmutzliteraturkampf im Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts.
Wien: Braumüller, 2003 (Untersuchungen zur österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. 16).
203 S.; brosch.
ISBN 3-7003-1434-5.

Rezension vom 26.05.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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