Kein Wort zu viel verwendet Ljuba Arnautović in ihrem dritten Roman Erste Töchter, der nach den Bänden Im Verborgenen (Picus, 2018) und Junischnee (Zsolnay, 2021) den Abschluss einer Trilogie darstellt. Arnautović erzählt meisterlich das Notwendige in einer sorgfältigen, akkuraten Sprache. Stellenweise wirkt das schnelle Tempo des Romans atemlos, doch findet sich in den detaillierten Beschreibungen ein Raum, der zum Mitdenken und -fühlen einlädt. Die Autorin lässt Weite und Größe durch einfache Worte entstehen.
„Karl ist ein Gezeichneter. Nicht nur Gesicht und Körper tragen die Narben eines schweren Schicksals, auch seine Seele ist verwüstet.“ (S. 11)
Der Roman kreist um die Schicksale der beiden Schwestern, die die Autorin an Kästners doppeltes Lottchen anlehnt. Karl, der Vater der beiden Hauptfiguren Luna und Lara, ist eine Leerstelle, und wirkt dennoch schicksalsverändernd im Leben seiner Töchter und mehrerer Ehefrauen.
Arnautović schildert die Leben von Frauen, die von den Handlungen eines Mannes in Mitleidenschaft gezogen werden, folglich ist ihr Roman auch aus feministischer Perspektive wesentlich: Die Autorin zeigt, wie sich die Selbstbestimmung von Frauen im Lauf der Jahrzehnte verändert, wie sich Klasse, Wohlstand, Umfeld und vor allem Bildung auf ihre Möglichkeiten auswirken.
„Und so vermittelt Karl, ohne dass es jemals seine Absicht gewesen wäre, seinen Töchtern feministische Werte. Lass nie einen Mann über dich bestimmen. Bei der geringsten Andeutung von Gewalt verlass ihn auf der Stelle. Lerne so viel wie möglich, ein guter Beruf macht dich unabhängig. Behalte stets die Kontrolle über dein Leben, deinen Besitz, und in erster Linie über deine Gefühle.“ (S. 93)
Die Autorin, selbst in Kursk geboren und später nach Österreich und Deutschland gekommen, setzt sich mit den Themen Flucht, Migration und Fremde aus einem sehr persönlichen Blickwinkel auseinander, schreibt in zarten gewandten Pinselstrichen vom Leben in Wien und München, von der Arbeiterklasse, dem Gulag und der Bürgerlichkeit, vom Grauen der Kriege, aber auch von persönlicher und institutioneller Macht.
Immer wieder tritt die Erzählung aus den persönlichen Geschichten heraus und nimmt eine historische Sichtweise ein, zeigt die großen Umbrüche Europas im 20. Jahrhundert. An eingestreuten behördlichen Dokumenten wird eine sorgfältige Recherche sichtbar, persönliche Briefe geben der Historie eine emotionale Färbung. Die faktischen Einordnungen belegen, dass der Roman ein wichtiges Zeitdokument darstellt.
Eine der Stärken des Romans ist seine Sprache: Die Autorin evoziert in ihrer Knappheit Empathie, lässt einzelne, möglicherweise fremde Lebensentwürfe nachvollziehbar werden. So etwa am Beispiel der leiblichen Mutter der Protagonistinnen, Nina, der ersten Frau des Vaters, die aus einfachen Verhältnissen in Russland stammt. Die Situation der Frau ist fremdbestimmt, sie ordnet sich jenen unter, die ihr begegnen, zumeist Männern: Nina verlässt Russland, um bei ihren Töchtern zu sein, begehrt nicht auf gegen den Ex-Mann, der ihr die Kinder nimmt, bleibt ihnen zuliebe in Österreich, wo sie nicht sein möchte, und lebt mit einem problematischen Mann zusammen, weil sie sich keine eigene Wohnung leisten kann. Niemals verfällt Arnautović in einen bewertenden Ton, schafft es, dass man als Leser:in mit der Frau fühlt und gleichzeitig versteht, weshalb sie sich nicht gegen die Umstände wehren kann.
„Ihre ‚richtige‘ Mama sehen die Mädchen nur alle vierzehn Tage. Das Sorgerecht wurde ihr entzogen mit der Begründung, sie könnte die beiden minderjährigen österreichischen Staatsbürgerinnen in ihre Heimat, die bolschewistische Sowjetunion, entführen. (…) Jetzt läutet an jedem zweiten Samstag Nina frühmorgens an Erikas Tür, um von ihrem gerichtlich zuerkannten Umgangsrecht mit ihren Kindern Gebrauch zu machen.“ (S. 60)
Ein anderer wesentlicher Aspekt des Romans ist die Sprache als Thema. Die Autorin zeigt, welches Verständnis und welche Möglichkeiten die Beherrschung einer Sprache eröffnet, beispielsweise mit der Figur der Nina, die sich mangels Deutschkenntnissen die österreichische bzw. deutsche Kultur nicht aneignen kann. Oder in der Figur der Luna, der erstgeborenen Tochter, die durch ihre aus der Kindheit stammenden Russischkenntnisse einen Zugang zu dieser Kultur hat, der ihrer jüngeren Schwester verwehrt bleibt. Auch der Vater nutzt seine Mehrsprachigkeit und arbeitet transnational, zwischen Deutschland und Russland.
Am Beispiel des Vaters erzählt die Autorin nicht nur von Klassenunterschieden, sondern zeigt auch auf, was Kriege und Vertreibung in einem Menschen bewirken, und wie sich die daraus resultierenden Verhaltensweisen, Konditionierungen und Narben auf ein gesamtes Umfeld, bis hin zu den Nachkommen, auswirken. Karl ist ein Opportunist, der sich anpasst, alles zu seinem Vorteil nutzt, ohne Rücksicht auf Verluste. An ihm wird sichtbar, dass das Private zutiefst politisch ist.
Arnautović reiht Szenen aneinander wie in einem Film, macht Schnitte, lässt die Lesenden nicht nur in der Zeit mitreisen, sondern auch in die Couleurs ihrer Protagonist:innen eintreten. Ein besonderes Stilmittel sind Wiederholungen, die die Autorin an die Anfänge der Kapitel stellt, und in dieser Hinsicht entspricht die Form dem Inhalt: Ihre Figuren beginnen immer wieder neu und so finden sich auch wiederholte Anfänge in den Kapiteln. Zunächst muten diese Neubeginne wie ein Rückschritt an, eine Pause, um noch einmal zurückzukehren und sich zu vergewissern, was geschehen ist. Doch hilft dies bei der Orientierung im Text, beim Verständnis der zahlreichen Charaktere und ihrer Schicksale.
Mit Erste Töchter ist Ljuba Arnautović ein wichtiges literarisches Zeitzeugnis gelungen. In einer wirkmächtigen Sprache beleuchtet die Autorin ein wesentliches Kapitel europäischer Geschichte und zugleich die Schicksale von Frauen, von Menschen, zwischen Kriegen, Ländern, Sprachen und Kulturen.
Marianne Jungmaier, geb. 1985, studierte Digitales Fernsehen, Medien- und Kulturwissenschaften (B.A.) und Journalismus (M.A.). Fortbildungen in Sprechtechnik und Schreibpädagogik. Sie veröffentlichte bislang zwei Romane sowie drei Lyrik- und zwei Erzählbände. Sie wurde mehrfach ausgezeichnet – u. a. mit dem George-Saiko-Preis für ihren Debütroman Das Tortenprotokoll (Kremayr & Scheriau, 2015). Zuletzt erschien der Lyrikband Gesang eines womöglich ausgestorbenen Wesens (Otto Müller, 2024). Sie arbeitet auch mit anderen Medien wie Film und Fotografie, und unterrichtet kreatives Schreiben. Homepage von Marianne Jungmaier