#Prosa

Erzähle mir von hier, ich erzähl dir von anderswo

Veronika Trubel, Walter Grond

// Rezension von Beatrice Simonsen

Fariza Bisaeva, Felix König, Mahdi Hussaini, Bernadette Sarman, Govany Roufaeil und Liv Modes heißen die jungen Schreibenden, die anlässlich des Österreichschwerpunkts auf der Leipziger Buchmesse 2023 zu einem Schreibprojekt eingeladen wurden.
Junge Menschen sollten einander von ihren Herkunftsländern erzählen, und in diesem Austausch während einiger Tage das Thema Integration reflektieren.

Den Teilnehmer:innen aus Österreich wurden die Reise und der Aufenthalt in Leipzig in Aussicht gestellt, die beiden Leipziger:innen hatten die Gastgeberrolle inne. Der Besuch der Buchmesse und einer Ausstellung des Cartoonisten Nicolas Mahler sowie die Möglichkeit mit etablierten Autor:innen (Luna Al-Mousli, Birgit Birnbacher, Marc Elsberg, Tonio Schachinger, Tinashe Williamson) vor Ort ein Gespräch zu führen, sollten neugierig auf das literarische Geschehen und Lust aufs Schreiben machen. Im Gegenzug wurde die Reflexion der Themen Demokratie und (gelingende) Integration erwartet, wie auch das Erlebte schriftlich festzuhalten. Das Projekt wurde filmisch dokumentiert, die Texte als Buch von den engagierten Autor:innen Veronika Trubel und Walter Grond herausgegeben. Erfreulicherweise fanden sich für die Intention, Österreich als „Literaturland und offene Gesellschaft“ zu zeigen, mehrere Partnergesellschaften und Fördergeber.

Sechs junge Menschen – geboren zwischen 1997 und 2004 – folgten der Einladung „Erzähl mir von Leipzig, ich erzähl dir von Österreich“ und teilen ihre Erfahrungen mit uns. Alle vier aus Österreich kommenden Teilnehmer:innen stammen aus Familien mit Migrationshintergrund. Ihre Buchbeiträge sind von Direktheit und Offenherzigkeit geprägt, voll Engagement, sich ihren Leser:innen nachhaltig mitzuteilen. Stilistisch finden wir alle Varianten zwischen analytischem Bericht und phantasievollem fiktiven Experiment.

Es sind Erzählungen über Migrationserfahrungen, biographische Traumata, die mehr oder weniger gut verarbeitet wurden. Es sind auch Erzählungen über das Ankommen im neuen Heimatland Österreich. Die Bemühungen, das Gastland, seine Sprache, seine Gebräuche, seine Kultur kennenzulernen, sich in die Schule zu integrieren, einen Arbeitsplatz und damit ein finanzielles Auskommen für sich (und die Familie) zu finden, sind vom Überlebenswillen der Ankommenden geprägt. Alle leben in dem Bewusstsein, mit der früheren Heimat auch die Sprache, die Kultur, einen (großen) Teil ihrer selbst verloren zu haben. Dieser Zwiespalt muss gekittet werden. Im besten Fall wird der Reichtum erkannt, der in der inneren Versöhnung zweier Kulturen liegt. Im allerbesten Fall wird dieser auch von der Gesellschaft und den Mitmenschen gesehen.

Jene, die keine direkten Migrationserfahrungen kennen, die sich nur theoretisch damit auseinandersetzen, kämpfen mit ganz ähnlichen Problemen. Die elementare Frage nach dem eigenen Platz in der Gesellschaft betrifft alle Heranwachsenden. Welche Arbeit passt zu mir? Wie gestalte ich mein Leben als Erwachsener? Wie gehe ich mit dem vorgegebenen kapitalistischen System um? Kann ich selbst etwas zu Veränderungen beitragen oder gegen Vorurteile und Diskriminierung auftreten? „Nicht aufgeben“ ist der oft rettende Gedanke für die, die sich allein gelassen fühlen. Schwierigkeiten, die sich natürlich auch in diesem Projekt offenbaren, werden gemeinschaftlich und respektvoll gemeistert. Das Trennende wiegt weniger schwer als das Verbindende, wenn man einander nicht mehr fremd ist, stellt etwa Fariza Bisaeva fest – sie wurde in Tschetschenien geboren und lebt seit 20 Jahren in Österreich.

Wertschätzung, Familienzusammenhalt, finanzielle und persönliche Sicherheit, ein politisches System, das Möglichkeiten bietet, Freundschaften erwiesen sich als wichtigste Stützen in Krisensituationen. Die Erkenntnis, als Mittler:in zwischen den Kulturen besonders nützlich für die Gesellschaft zu sein, kann Wunder wirken. Dies klar zu sehen, kann Verdienst des vorliegenden Buches sein. Das sinnvolle Projekt hat einen Samen für Solidarität und Ermutigung gesät. Neben dem Erreichen persönlicher geht es vor allem um die Erreichung allgemeiner demokratischer Ziele. Samen, die bei entsprechender Pflege zu starken Pflanzen heranwachsen können.

Homepage von Beatrice Simonsen

Veronika Trubel und Walter Grond (Hrsg.) Erzähle mir von hier, ich erzähl dir von anderswo. Junge Schreibende über (gelingende) Integration
mit Texten von Fariza Bisaeva, Felix König, Mahdi Hussaini, Bernadette Sarman, Govany Roufaeil und Liv Modes 
Düsseldorf: Karl Rauch Verlag, 2024.
112 Seiten, Klappenbroschur.
ISBN 978-3-7920-0289-6

ausführliche Informationen zum Buch

der Blog zum Projekt

 

 

 

Rezension vom 07.07.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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