#Roman

Eskalationsstufen

Barbara Rieger

// Rezension von Raoul Eisele

Liebe im Patriarchat oder wie man Stufe um Stufe in Abhängigkeiten rutscht. Julia lebt in einer scheinbar „offenen Beziehung“, Joe hängt immer noch an seiner toten Frau. Doch beide verspüren eine enorme Anziehung, der sie sich nicht entziehen können. Die Konsequenzen sind aber drastisch und verdeutlichen die Komplexität von Liebe und Beziehungen in unserer Zeit. Kurz: Eine Liebesgeschichte, die keine ist.

„An manches könne man sich nie, solle man sich nie gewöhnen“ (S. 58), schreibt Barbara Rieger; ein zentraler Satz für ihr aktuelles Buch Eskalationsstufen. Es geht um Gewalt, es geht um Machtdynamiken, um Übergriffigkeit und um toxische Beziehungen (hier im Speziellen zu einem Narzissten) – etwas, das Rieger in ihrem Schreiben immer wieder aufgreift. Ihr bereits dritter Roman beleuchtet erneut die Schwierigkeiten, die manipulative Beziehungsverhältnisse (ob zu Männern, zur Mutter oder in Freund:innenschaften) in sich tragen und „Ich gestehe, […], dass diese Auseinandersetzung mit Gewalt etwas mit mir macht“, wie die Autorin an anderer Stelle schreibt.

Der Roman Eskalationsstufen setzt mit dem tragischen Ende einer Beziehung ein und rollt rückblickend (in Anlehnung an das psychologische Modell der britischen Kriminologin Jane Monckton Smith in acht Stufen) den Femizid an Julia auf.

Doch alles beginnt, wie könnte es anders sein, harmlos und mit einem zufälligen Treffen mit Meet-Cute-Charakter. Julia begegnet bei einer Ausstellung dem Maler Joe (dessen Hauptthema in seinen Arbeiten tote Frauen sind). Er ist erfolgreich und gilt als etablierter Künstler in der Szene, während sie noch am Anfang ihrer Karriere steht (mit dem Hauptthema ihrer Arbeiten: Bäume und naturalistische Landschaftsgemälde) – und nebenbei als Deutschtrainerin jobbt. Das kurze Kennenlernen lässt Funken sprühen und führt zu ersten Flirts und Nachrichten, zu ersten Treffen, einem Date, zum ersten Kuss, einer zwei- bis dreimonatigen Affäre und schließlich zur Trennung von ihrem langjährigen Partner David und zum Einzug bei Joe. Hierbei kippt es, da sie plötzlich durch den Rauswurf aus Davids Wohnung von ihrer Unabhängigkeit in eine Abhängigkeit schlittert.

Die Eskalation ist vorprogrammiert, nicht nur durch die Warnungen von Freundinnen, denen Joe ohnehin suspekt ist, sondern auch durch ihr eigenes Unwohlsein – kennt sie doch das überstürzte Sich-in-Liebschaften-fallen-Lassen allzu gut (auch von sich selbst): „Du hast recht, es ist komplett verrückt […] und ich erzähle ihm nicht, dass es bei David im Grunde ähnlich war, und nicht nur bei David, dass auch ich eine Wiederholungstäterin bin.“ (S. 69)

Schnell spitzt sich die Situation zu und die Warnsignale werden immer deutlicher, etwa wenn Joe sagt: „[…] dass er im Prinzip keine Ahnung hat, nicht weiß, wie Beziehungen funktionieren, Beziehungen zu lebendigen Frauen.“ (S. 69) Und diese Aussage bestätigt sich schnell, zeigt er doch ihr gegenüber unerwünschte Verhaltensweisen wie Love-Bombing, unerwartete Besuche am Arbeitsplatz und sexuelle Übergriffe (denen sie wiederum fast humorvoll mit Sätzen begegnet wie: „Wir sind doch kein Feuerwehrfest!“ (S. 59)). Julia findet sich in einer ungewollten Abhängigkeit wieder, die von Gaslighting [Gaslighting wird in der Psychologie eine Form von psychischer Manipulation bezeichnet, mit der Opfer gezielt desorientiert, verunsichert und in ihrem Realitäts- und Selbstbewusstsein allmählich beeinträchtigt werden.] und emotionaler Erpressung geprägt ist, die sie aber zu Beginn nicht für möglich hält.

Dieser blinde Fleck, der Gedanken zu Tage treten lässt, wie: Es betrifft einen doch nicht, auch wenn man es bei anderen sieht oder deutlich vor Augen geführt bekommt. Als Beispiel dafür gilt Fatima, eine Schülerin von Julia. Fatima ist der häuslichen Gewalt ihres Mannes ausgesetzt. Zwar wird sie durch eine Kollegin von Julia ins Frauenhaus gebracht, doch auch sie ist den Zwängen der Abhängigkeit ausgeliefert und will nach kurzer Zeit wieder zurück zu ihrem Mann, um ihm zu helfen. Ein Teufelskreis, der scheinbar nicht zu durchbrechen ist. Dies suggeriert jedenfalls der Roman an einigen Stellen, indem er die Gewaltspirale von Seite zu Seite immer deutlicher aufzeigt.

Doch es steckt mehr hinter der Geschichte als nur das Abhandeln von toxischen Beziehungen. Verstärkt lässt sich der (anerzogene) Zweifel Julias erkennen, der für viele, wenn nicht für eine Allgemeinheit (weiblich gelesener Personen) steht, die Suche nach der eigenen Schuld, die Komplexe, die ihr/ihnen über Jahrzehnte/Jahrhunderte eingeimpft wurden. Zuschreibungen wie Hysterie, sich Kleinreden lassen, die Unterdrückung von Wut oder das unmögliche Streben nach Unabhängigkeit durch die wiederholte Herabwürdigung (auch innerhalb des eigenen Geschlechts). Klischees wie: Sie müsse sich doch so verhalten, um zu gefallen – scheinen selbst bei heutigen Frauen wie Julia, die stark und unabhängig auftreten, unterbewusst noch vorhanden zu sein.

Es ist beeindruckend, wie es Rieger gelingt, von Seite eins an diese Klischees teils zu bedienen, um sie an anderer Stelle wieder zu konterkarieren. Sie fesselt sprachlich und gibt einem deutlich das Gefühl, dass es sich eben nicht um Einzelfälle handelt und dass immer eine gewisse Mitschuld in der Gesellschaft vorhanden bleibt, wenn man nichts gegen diese Fakten tut. Es sind viele, zu viele, immer wieder (bis April 2024 bereits sieben). Und es betrifft eben nicht nur Frauen, sondern zeigt allgemein einen Diskurs in Bezug auf Diskriminierung und Herabwürdigung gegenüber vielen Menschen auf, die nicht dem traditionellen („Frauen“-)Bild entsprechen.

Rieger versucht sich im Heranschreiben an diese schwelende Wut, die weiterhin latent unter der Oberfläche schlummert und nur ab und an herausbrechen darf, aber eigentlich ständig hervorgeholt werden müsste. Dieses Heranschreiben gelingt ihr bravourös. Die sichtlich vorausgegangene Recherche, die ins Buch eingeflossen ist, arbeitet sich an teils realen sowie fiktiven Erlebnissen ab, die gekonnt mit popkulturellen Elementen gespickt werden, um zu zeigen, wie häufig Übergriffigkeit auch in der Kunst Platz gefunden hat und immer noch Platz findet.

Barbara Rieger gelingt es in diesem Buch, das Unerträgliche in Worte zu fassen, und lässt einen (interpretativ) mit dem Aufruf zurück: STOPPT DIESE HERRSCHENDE GEWALT!

 

Homepage von Raoul Eisele

Barbara Rieger Eskalationsstufen.
Roman.
Wien: Kremayr & Scheriau, 2024
224 Seiten, Hardcover.
ISBN: 978-3-218-01423-6

Homepage von Barbara Rieger

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin sowie einer Leseprobe

Rezension vom 05.04.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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