#Lyrik

eure stimmen eure sprachen

Lorena Pircher

// Rezension von Raoul Eisele

„die gleise entlang in der morgendämmerung“ (S. 57) fungiert als prägnante Metapher für das zentrale Thema des Gedichtbands euer stimmen eure sprachen von Lorena Pircher. Denn die Autorin bewegt sich in ihrem neuen Buch entlang der Spuren ihrer Großeltern(-Generation), wirft Licht auf Vergangenes und begibt sich auf die Suche nach deren Sprache. In ihren Gedichten reflektiert Pircher über transgenerationale Verbindungen und deren Einfluss auf die eigene Identität, die sich in einer Verknüpfung von persönlichen Erinnerungen und kollektiven Narrativen manifestiert. Ihre Texte thematisieren das Fortgehen und die Rückkehr, das individuelle und kollektive Gedächtnis sowie die Mehrsprachigkeit „due tre lingue“ (S. 71) (Deutsch/Italienisch/Ladinisch), die von der Autorin bewahrt werden möchte.

Lorena Pirchers Lyrikband entfaltet sich bereits im Titel als ein vielschichtiges Gewebe, das die Essenz ihrer poetischen Erkundungen umreißt: Stimmen verschiedener Generationen, die in einen Dialog miteinander treten, und die facettenreiche Welt der (Mehr-)Sprachigkeit und deren (teils historisch erklärbarem) Verlust. Hier wird das lyrische Ich nicht nur zur Zuhörerin, sondern auch zur aktiven Gesprächspartnerin der Großeltern – den Protagonist:innen dieses Werkes, denen das Buch gewidmet ist. Ihre Erinnerungen sind für die Autorin ein Spiegel, in dem sie die Spuren einer vergangenen Zeit entdeckt, um darüber das eigene Selbst zu ergründen:

„werde wissen wer ihr gewesen seid woher ihr gekommen
wohin ihr gegangen von eurer kindheit euren sprachen
zwischen ländern eure eltern vom meer zum tal von land
zu land grenzverschiebung zu grenzüberschreitung“ (S. 19).

Gegliedert in sechs Kapitel – „herkunft“, „suche“, „stimmen“, „rückkehr“, „weite“ und „reise“ – entfaltet sich eine akribische Erkundung von Lebensetappen mehrerer für sie wichtiger Menschen. Pircher bewegt sich in einem zyklischen Schreibstil, der zwischen Vergangenheit und Gegenwart pendelt, während sie nach Wurzeln, Identität und Erinnerungen strebt, um ein eigenes Ich zu formen, das bereit ist zu lernen (S. 17). Denn das lyrische Ich erkennt die eigene Unkenntnis an: „nichts weiß ich von damals: / von zwanzig jahren leben vor dem meinen“ (S. 29) und sucht gerade deshalb nach Antworten, spricht an und reflektiert über eine Zeit, die es als poetischen Raum zu erkunden gilt.

Im titelgebenden Gedicht eure stimmen eure sprachen wird diese Wissens- und Verständnisreise zur treibenden Kraft; Pirchers Sprache fungiert daher nicht nur als Mittel zur Kommunikation, sondern auch als Werkzeug des Erinnerns und des Austauschs. Dadurch entsteht ein eindringliches Bild von Identität und Zugehörigkeit, das den Leser:innen tiefere Einblicke in die Komplexität menschlicher Beziehungen gewährt. Durch die geschickte Verknüpfung individueller und kollektiver Erinnerungen schafft Pircher ein facettenreiches Verständnis von Identität, das über persönliche Grenzen hinausreicht.

Die Art und Weise, wie Pircher mit Erinnerungen und Vergangenem umgeht, ist von einer tiefen Sensibilität geprägt, die ihre Gedichte nicht nur zu einer Suche nach den eigenen Wurzeln machen, sondern auch zu einem respektvollen Eintauchen in die Geschichten anderer. Die Bilder, die sie dafür verwendet, laden dazu ein, darüber nachzudenken, wie Erinnerungen geformt werden – durch Objekte, Orte und zwischenmenschliche Beziehungen: „lege äste in den weidenkorb den du getragen auf dem / rücken … “ (S. 13), „geruch von schafwolle und essig duft der geborgenheit / heu orecchiette geschälte tomaten einen schluck wein / und die scalda ‘nduja zischt leise das fleisch köchelt“ (S. 45), „mare di notte wie der schnee im april in klirrender / kälte salzwasserkrusten an kleidern zu dünn […]“ (S. 51).

Die vielen Details, an denen sich Pircher abarbeitet, erzeugen eine Nähe, die es nur allzu verständlich macht, dass sie diese Details „von damals als ich noch nicht war“ (S. 17) vor dem Vergessen bewahren will. Stück für Stück sammelt sie jede noch so kleine Kleinigkeit aus jenem Ort, an dem die „bäume höher und die ebene ein körper“ (S. 149) ist. Der Drang des lyrischen Ich bleibt stets erhalten, die Vergangenheit in sich einzuschließen; sogar „unter der zunge“ unter der „die kleine stadt / mit den bunten kirchtürmen“ (S. 141) hervortritt; so werden alltägliche Gegenstände und Szenen zu Trägern von Geschichten und Emotionen.

Jede Berührung der Vergangenheit, ob zart oder kratzend/grabend, wird in Pirchers Gedichten zu einem lebendigen Gewebe, das die Leser:innen einlädt, in dieser aus vielen Fäden gesponnenen Welt einzutauchen. Die Art und Weise, wie sie mit haptischen Elementen spielt – sei es durch das Garn oder das Flechten von Zöpfen (S. 13), sei es der blassgelbe Teig (S. 85), die Haut oder das Holz (S. 15) auf schneenassem Boden (S. 57) – schafft eine greifbare Verbindung zur Vergangenheit.

Diese Verbindung zwischen individuellen Erinnerungen und größeren historischen Strömungen verleiht Pirchers Lyrik darüber hinaus ihre eindringliche Vielschichtigkeit. Sie reflektiert nicht nur persönliche Erfahrungen, sondern auch die kollektiven Traumata ihrer Vorfahren – Flucht und faschistische Unterdrückung – während sie gleichzeitig Momente des schönen Lebens zulässt. Diese Dualität zeigt sich darin, wie das lyrische Ich versucht, die eigene Identität im Spannungsfeld zwischen persönlichem Erleben und historischer Realität zu definieren.

Letztlich bleibt die Frage, wie man über Vergangenes schreiben kann, das man selbst nicht erlebt hat. Pircher begegnet dieser Herausforderung jedoch mit einer einfühlsamen Auseinandersetzung sowohl mit ihrer eigenen Geschichte als auch der ihrer Vorfahren. Ihre Gedichte sind daher nicht nur ein Akt des Erinnerns, sondern auch ein respektvolles Eintauchen in die Geschichte – vergleichbar mit einem Fotoalbum, das den Leser:innen anvertraut wird.

Homepage von Raoul Eisele

Lorena Pircher eure stimmen eure sprachen
Lyrik.
Wien: edition exil, 2024.
152 seiten, broschiert.
ISBN:
978-3-901899-96-6.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autorin

Rezension vom 21.01.2025

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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