#Sachbuch

Exilland Schweiz

Claudia Hoerschelmann

// Rezension von Ursula Seeber

Der St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger, der für seine Fluchthilfe nicht gewürdigt, sondern kriminalisiert wurde, die „nachrichtenlosen“ Vermögen und das vermutliche Nazi-Gold auf Schweizer Banken – diese „Fälle“ lassen heute die Schweiz als ein Land erscheinen, in dem die Politiker das Nachdenken über ihre jüngste Geschichte nicht mehr nur den Historikern überlassen können: „Wir haben viel zu gedenken, aber wenig zu feiern“ (Adolf Muschg).

Der Schweiz eilte der Ruf eines humanitären und traditionell demokratischen Staates voraus, als 1933/1938 tausende Hitler-Flüchtlinge versuchten, über seine Grenzen zu kommen. Nur der Hälfte von ihnen gelang dies, die andere fiel den längst ausgearbeiteten übermäßig restriktiven, fremdenfeindlichen Richtlinien zur sogenannten „Ausschaffung“ von Ausländern zum Opfer.

Das juridische und organisatorische System der Grenzsicherung, wie die Einführung des „J-Stempels“ für Pässe deutscher Juden ab 1938 oder die nur von einer Minderheit als „unmenschlich, unschweizerisch“ (S. 69) kritisierten „Überstellungsmaßnahmen“ gegen Zivilflüchtlinge an der Westgrenze 1942/43 („Das Boot ist voll“), wird im ersten Kapitel dieser Studie rekapituliert. Das zweite Kapitel dokumentiert die Asylbedingungen im Land selbst: Transitzwang, Berufsverbot, Verbot politischer Betätigung und Internierung in Arbeitslagern, Die Archivmaterialien, viele davon im Anhang faksimliert, bilden mit Zeitzeugenberichten über ängstlichen Gehorsam, aber auch Zivilcourage von Schweizer Grenzbeamten und Erinnerungstexten über den Alltag im Lager ein dicht gefügtes „Stimmungsbild“ (S. 13) „erlebter Geschichte“.

Der dritte Abschnitt ist dem politischen österreichische Exil in der Schweiz vorbehalten. Unter Berufung auf die Neutralität des Landes wurde den Flüchtlingen jede politische Betätigung untersagt, was auch kuriose Folgen hatte: indem die Schweiz den „Anschluß“ politisch anerkannte, wurde selbst das öffentliche Bekenntnis zu einem unabhängigen Österreich zum Straftatbestand. Erst 1944 wurden politische Organisationen und Periodika zugelassen, darunter das fortschrittliche „Vorbereitende Komitee österreichischer Künstler“ 1944, dem Karl Paryla, Hans Weigel oder Fritz Wotruba angehörten, oder die „Verbindungsstelle Schweiz“ zur Widerstandsbewegung „05“ um Fritz Molden.

Der fast ein Drittel des Bandes einnehmende letzte Abschnitt dokumentiert – so Untertitel und Verlagswerbung – „ca. 250 Einzelbiographien“ von Österreichern und Österreicherinnen aus verschiedenen Berufsgruppen, von Autoren und Journalisten über Schauspieler und bildende Künstler, Musiker, Politiker, Wissenschaftler, Theologen, Handwerker, Unternehmer bzw. Vertreter kaufmännischer Berufe, die vorübergehend oder dauernd in der Schweiz Asyl gefunden haben. Auch hier geht es der Autorin vor allem um das persönliche Erleben der Betroffenen. Auf bio-bibliografische Kurzinformationen folgen nach Maßgabe literarische und autobiografische Zitate und Interview-Passagen zum Leben vor 1938, zum Fluchtweg, zum „Aufenthalt in der Schweiz“ und zur Nachkriegszeit. Dieser Abschnitt beeindruckt nicht nur durch den Anspruch, eine authentische Geschichte des Schweizer Exils jenseits der Prominentenforschung zu schreiben, durch die Menge der bekannten und unbekannten Namen, sondern auch durch die Fülle der recherchierten „kleinen“ Sekundärliteratur wie Nachrufe, Gedenkartikel oder gedruckte Interviews, die in den lexikalischen Einträgen oft ganz versteckt vorkommen.

Daß „das Erscheinungsbild der Biographien äußerst unterschiedlich“ (S. 237) ist, irritiert. So teilen sich etwa unter den Autoren Fritz Hochwälder, Robert Musil, Thomas Sessler und Hans Weigel, alle seit 1938 in der Schweiz, mit 2 bis 3 Seiten die Ränge im Mittelfeld mit Rita Seliger, die sich als Schneiderin durchbrachte und nach 1945 in Wien Lehrerin und Lyrikerin wurde; der Eintrag zu Robert Neumann, allerdings erst seit 1959 im Land, umfaßt 7 Zeilen, der von Florian Kalbeck 7 Seiten; die Journalisten Karl Schiffer und Kurt Seliger sind auf 6 bzw. 11 Seiten mit langen Paraphrasen aus ihren Erinnerungsbüchern vertreten.

Dieses Verfahren führt zwangsläufig zu Redundanzen und Überschneidungen mit vorherigen Abschnitten und verstärkt den Eindruck, die Gewichtung der Beiträge richte sich nicht nach der Bedeutung der Person oder der Dauer ihres Schweizer Exils, sondern danach, ob Autobiografien vorhanden sind oder ob die Person noch interviewt werden konnte. Wo beides nicht der Fall ist, wie bei Felix Salten, fällt dann die – dreizeilige – Information entsprechend unverbindlich aus: „[…] 1939 emigrierte er in die Schweiz; mit Bambi beeinflußte er wesentlich die moderne Tiererzählung.“ (S. 270). Dabei hätte sich an dem im Nachlaß in Zürich erhaltenen Briefwechsel mit seinem Schweizer Verleger gut vorführen lassen, wie Salten unter den restriktiven Bedingungen des Exils gegen seinen Willen zum Tierbuchautor gepusht wurde (dokumentiert in der Diplomarbeit von Gabriele Reinharter über Salten, Graz 1992). Bei Salten erweist sich auch, daß die lexikalischen Einträge mehr Standardisierung vertragen hätten, etwa bei den Ortsangaben oder bei den Werken, indem sich die Autorin auf die Jahre ab 1933/38 beschränkt oder auf Bibliografien verweist anstatt eine nicht nachvollziehbare Auswahl aus dem Gesamtwerk zu treffen. Bei den Wissenschaftlern verzichtete sie meist überhaupt auf solche, von den vier „Germanisten“ Dorit Cohn, Erich von Kahler, Minna Lachs und Walter Sokel etwa ist nur Minna Lachs mit einem Werkverzeichnis ausgestattet. Oder: Pseudonyme, für das Schreiben im Schweizer Exil lebenswichtig, werden etwa bei Robert Jungk oder Hans Weigel nicht im lexikalischen Vorspann genannt.

Für diese Sektion gibt Claudia Hoerschelmann im wesentlichen Quellen aus den achtziger Jahren an (S. 237). Im Erscheinungsjahr des Buches wäre über Spezialwerke zu Musik, Film, Architektur, Psychiatrie oder Frauenliteratur im Exil da und dort ein aktuellerer Stand von Daten zu ermitteln gewesen (Ascher-Nash, Becher, Berl-Lee, Lachs, Sessler etc.).

Kritik an Details soll die Verdienste dieser Forschungsarbeit nicht schmälern. Claudia Hoerschelmann stellt die ambivalente Rolle dieses Exillandes überzeugend dar. Die Schweiz konnte sich dem direkten Einfluß der Nationalsozialisten entziehen und Zehntausenden Menschen in einer Art „Quarantäne“ das physische Überleben sichern. Während sie nicht zögerte, das reale Kapital der Flüchtlinge zu verwahren, hat sie die Chance, das mitgebrachte intellektuelle und kreative Vermögen dieser Menschen gut anzulegen, nicht genützt.

Claudia Hoerschelmann Exilland Schweiz. Lebensbedingungen und Schicksale österreichischer Flüchtlinge 1938 bis 1945.
Mit ca. 250 Einzelbiographien.
Innsbruck: Studien Verlag, 1997, (Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Institutes für Geschichte und Gesellschaft. 27).
478 Seiten, gebunden.
ISBN 3-7065-1193-2.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 17.03.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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