#Prosa

Fahrt ins Glück

Hannelore Fischer

// Rezension von Sabine Schuster

„Wie ein Federl, schauts euch die Kleine an. Uiiiiiiiii.“ Der Wandersmann ist ganz außer sich. Das kleine Luder hebt einfach ab. Er springt in die Höhe. Er will auch. Er will auch. Er will auch so hoch hinaus. Er, Adi Schicklgruber, wird sowieso in die Geschichte der Menschheit eingehen. Er rudert mit den Armen in der Luft herum. „Heiiiiiii, heiiiiii … heiiillll.“ Die Leute schreien hysterisch mit. Auch sie springen hoch, auch sie rudern, auch sie kreischen. „Heilllllll!“

Es muss nicht immer ein Roman sein – dies beweist die Schauspielerin und Autorin Hannelore Fischer mit ihrem schmalen Band Fahrt ins Glück, der im Wiener Verlagshaus Hernals erschienen ist. Eine Schwarzweißfotografie des Wiener Riesenrades illustriert dezent den Umschlag dieser „Pratergeschichte“, die auf siebzig Seiten gleich mehrere Generationen einer Wiener Familie porträtiert. Das ganze in einem schwindelerregenden Tempo, eher Ringelspiel als Riesenrad, und unterlegt von den bekannten Liedzeilen „Tanze mit mir in den Himmel, tanze mit mir in das Glück“. Eine Bilderfolge, inszeniert wie auf einer Theaterbühne, beginnend nach dem Ersten Weltkrieg, das Ringelspiel dreht sich gerade hinein in die goldenen 1920er Jahre und Truddl, die noch sehr junge Heldin, bekommt einen riesigen knallroten Luftballon geschenkt und wird mit ihrem Freudensprung zum berühmten Fotomotiv.

Damals, vor gut 100 Jahren, kam Schnitzlers Reigen erstmals auf die Bühne und Hannelore Fischers urwienerische Figuren, wie sie auf dem Ringelspiel des Herrn Karl durch die Zeiten fliegen, erinnern unmittelbar an die Stimmung dieser Szenenreihe, von der Schnitzler selbst meinte, dass sie, „nach ein paar hundert Jahren ausgegraben, einen Teil unserer Kultur eigentümlich beleuchten würde“. War es bei Schnitzler die erotische und sexuelle Praxis der k.u.k. Haupt- und Residenzstadt, die in einem eigentümlichen Licht erschien, ist es bei Hannelore Fischer das ganze Auf und Ab des menschlichen Lebens, der Politik, ganz besonders aber des Frauenlebens und all der damit verbundenen Träume und Schäume. „All die Verheißungen!“ – Doch wer mitfahren will auf dem Ringelspiel, muss bezahlen, das gilt schon für die Kinder.

„Truddl halt dich fest, sonst fliegst du runter!“, ruft die Mama.
Tatsächlich macht Truddl, die Hübsche, die im weißen Kleid aufgeregt auf dem gefleckten Tiger sitzt, in den folgenden Szenen gleich mehrere verstörende Erfahrungen. Ein gewisser Herr Schicklgruber schleicht ihr nach, malt heimlich ein Bild von ihr – arisch verfremdet mit blonden Zöpfen und kleinen Hakenkreuzen auf den Dirndlknöpfen – und greift ihr grob unter den Rock. Das Konkurrenzverhältnis zur dominanten Mama wird im Spiegelkabinett als groteskes Zerrbild sichtbar, und eine alte Wahrsagerin liest nicht nur große Fruchtbarkeit aus ihrer Hand, sondern als Draufgabe auch einen Bund mit dem Satan. Die Geisterbahn ist gar nicht mehr nötig, um das Gruseln kennenzulernen. Als ihr betrunkener Vater Toni nachts den Gasherd aufdreht, ist es die kleine Truddl, die ihm und der ganzen Familie das Leben rettet.

In nüchternem Zustand ist Toni ein liebevoller Vater, ein begeisterter Lehrer und Musiker. Wenn er auf der Kirchenorgel improvisiert und seine Tochter dazu singt, ist die Kagranerkirche voller als am Sonntag, sein Spiel und ihre Stimme gehen direkt ins Herz, am Tag nach seinem Suizidversuch noch mehr als sonst:

„Ihre Stimme setzt ganz zart, scheu und behutsam ein, dann klettert sie gemeinsam mit ihrem Vater stufenweise in die Höhe und jubelt ganz oben, als wäre sie bereits im Himmel, weit über dem heiligen Geist, der Taube und dem Barockaltar der Kagranerkirche. Einige der Zuhörer erheben sich erstaunt, andere suchen vor Ergriffenheit ihr Taschentuch. Aaaaahhhhhhh. Auch Toni ist von seiner Tochter entzückt. So wunderbar, so gefühlvoll wie heute, hat sie noch nie gesungen. Liebevoll begleitet er sie, während seine Tränen fließen.
„Pappa, Pappa, verlass mich nicht“, hat er das geträumt heute Nacht? Was war …? Ah nichts.“ (S. 27)

Truddl kann es in diesem Rahmen kaum erwarten, endlich groß zu werden, sich eins, zwei, drei zu verlieben. Das Ringelspiel ist für sie „wie eine drehende große Uhr. Man sieht wie die Zeit vergeht.“ (S. 28) Mit 19 Jahren heiratet sie zum ersten Mal. Nur weg von zu Hause, vom besoffenen Vater und der herrischen Mutter. Ab nun „schießt sie mit dem Besen durch ihre Dreieinhalbzimmerwohnung“, putzt und kocht für ihren Ehemann, kümmert sich um Lindscherl, ihre kleine Tochter. „Was hätte aus ihr werden können? Zumindest eine Operettensängerin.“ Und was ist schlussendlich aus ihr geworden? „Eine blöde Hausfrau und Mutter. Es ist zum Auswachsen.“ (S. 30)

Zweimal umblättern, und schon sind wir im Großdeutschen Reich, samt neuem Ehemann, neuem Kind und skurrilen Begebenheiten rund um das Schicklgruber-Bild aus Truddls Kindheit, das von der politisch strammen Schwiegermutter sofort als „frühes Meisterwerk unseres Führers“ identifiziert wird. Während ihr Mann Franki nach Holland eingerückt ist und im Widerstand gegen Hitler kämpft, muss Truddl zu einem Empfang beim Führer in der Hofburg. Mit dem Bild. Und mit Lindscherl, die nun exakt so aussieht wie die junge Truddl auf dem Bild. Die Pressefotos mit Lindscherl auf Onkel Adolfs Knien kleben bald auf jeder Litfaßsäule, so wie einst Truddl mit ihrem Luftballon.

„Wo … haben Hitler versteckt?“, fragen 1945 sowjetische Soldaten bei der Hausdurchsuchung. „Wenn Hitler im Haus … Alle bumm, bumm, bumm.“ Truddl starrt ihre Schwiegermutter an, das Schicklgruber-Bild hängt unscheinbar an der Wand. Wieder ist es ein Kind, diesmal die kleine Lortschi, die in aller Seelenruhe das Richtige tut und die Familie rettet. Erst am Ende ihres sehr langen Lebens gibt sich Truddl einen Ruck und verbrennt das Poträt im Gasrohr, nachdem sie ausgerechnet von einem jüdischen Händler 500.000 Schilling oder Euro („ist ja wurscht“) dafür geboten bekommt. Rauch verbreitet sich in der Wohnung. Die Feuerwehr ist ausgerückt. Eine Villa brennt …

Hannelore Fischers Fahrt ins Glück bietet auf kleinem Raum viele Geschichten und viel Geschichte. Lautmalerisch und im Takt des Ringelspiels kreiert sie eine Alt-Wiener Praterseligkeit, hinter der auf Schritt und Tritt Abgründe lauern. Dabei greifen klare, nüchterne Sätze und opulent dialektale Figurenrede ebenso selbstverständlich ineinander wie die verschiedenen Zeitebenen. Die Struktur ist genau durchdacht und fein ausgearbeitet bis zum letzten Satz. Dieser spannt, als Wiederholung einer frühen Erinnerung, einen Bogen vom längst verstorbenen Toni bis zu seiner Urenkelin und führt dabei die scheinbare Harmlosigkeit des zitierten Wiener Jargons exemplarisch vor: „Geh, Tschapperl, reg dich nicht auf, verstehst denn keinen Spaß? Ich spiel dir das Sterben doch nur vor.“ (S.  70)

„Unangepasst kühn“ nennt Erika Pluhar in einem Kommentar das Buch ihrer Schauspiel- und Autorenkollegin. Das stimmt insofern, als Hannelore Fischer ganz abseits literarischer Moden eine historisch anmutende Geschichte erzählt. Wer zu lesen beginnt merkt jedoch schnell, wie gegenwärtig diese Vergangenheit ist.

 

Sabine Schuster, Studium der Germanistik und Publizistik an der Universität Wien (Abschluss 1992), Tätigkeit für die schule für dichtung in Wien, die IG Autorinnen Autoren und den Folio Verlag, ab 1993 im Team des Literaturhaus Wien, von 2001 bis 2023 Redakteurin des Online-Buchmagazins.

Hannelore Fischer Fahrt ins Glück. Eine Pratergeschichte.
Mit Zeichnungen von Gabriela Baenziger.
Wien: Verlagshaus Hernals, 2021.
74 Seiten, Klappenbroschur.
ISBN 978-3-903442-01-6.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autorin

Rezension vom 23.02.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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