#Roman

Fallen

Paul Auer

// Rezension von Ursula Ebel

Von der Tristesse zum skurrilen Verwirrspiel

„Ich schlurfe ihm nach, schiele immer wieder zur Galerie rauf. Setze mich, ein gutes Stück von der Nacktschneckenstimme entfernt; (…) Nachtmann redet. Mein Image muss wirklich trist sein. Der Typ hält es für ausgemacht, dass ich sein wirres Zeug schlucke. Hinnehme. Glaube …“

Gelassen nimmt der junge Protagonist Christian Rieder in „Fallen“ anfangs noch eine Einladung zum Kaffee bei seiner neuen Nachbarin Judit an, gegen Ende des Romans wird er mit Nacktschnecken-Menschen zu tun haben, seinem Großvater eine geheimnisvolle Karte entwenden wollen und erneut auf seinen besten Freund treffen, der bereits seit einiger Zeit verstorben ist. Christian Rieders Leben ist von Schicksalsschlägen geprägt, seinen Vater verlor er als Jugendlicher, seine Großeltern kommen über den Verlust nicht hinweg, sein bester Freund nimmt sich auf einer waghalsigen Motorradfahrt das Leben, sein Studium kommt weder in die Gänge noch erscheint es dem jungen Mittzwanziger sinnvoll. Er träumt von einer eigenen außergewöhnlichen Reportage, erzählt von einem erfundenen Praktikum, arbeitet in Wirklichkeit jedoch in einem Callcenter. Die Beziehung mit seiner Freundin ging in die Brüche. Mit Leichtigkeit könnte man nun die Litanei über die unglücklichen Begebenheiten in Christian Rieders Leben fortsetzen. Seiner eigenen Zukunft sieht er verständlicherweise wenig hoffnungsvoll entgegen: „Wie jemals vom Call-Center wegkommen, wieder in die Spur finden, die anderswohin führt als zur Sozialhilfe, zum Herzinfarkt?“

Doch bald wird die Tristesse zur Randerscheinung, denn rätselhafte Begebenheiten treten in den Vordergrund. Was hat es mit der Nachbarin auf sich, deren Augen mitunter leuchtend rot strahlen? Wird tatsächlich ein alter dürrer Mann in der Nachbarswohnung von Christians Freund Stefan festgehalten? Welche Rolle spielt ein Foto, auf dem der Nachbar mit Flüchtlingen abgebildet ist? Kann der einst legendäre Investigativjournalist Tibor Jablovnik beim Aufdecken des Falls behilflich sein? Liegt ein mit der geheimnisvollen Landkarte verbundener Fluch auf der Familie des Protagonisten? Muss er sich für die Menschheit opfern?

Perspektiven- und Szenenwechsel in halsbrecherischem Tempo

Der 1980 in Kärnten geborene Autor zieht in seinem zweiten Roman bereits auf den ersten Seiten in puncto Spannung sämtliche Register. Nach einigen kurzen Kapiteln kreuzen sich die Handlungsstränge, die Grenzen zwischen Realität und Traum, Erinnerung und Gegenwart, Wunsch und Dystopie verschwimmen zusehends. Zudem vervielfältigen sich die Perspektiven, wenn anfangs noch primär aus Christians Perspektive erzählt wird, wandelt sich der Text rasch zu einem multiperspektivischen Mosaik. Christians Großeltern kommen etwa zu Wort und wenden sich direkt an die LeserInnen: „Meine Version gefällig? Also gut. Ich bin die Großmutter. Man nennt mich Oma. Sie kennen mich von der Bettbank. Es heißt, ich säße meistens da und stricke. Ich habe das nicht immer gemacht.“ Eine Besonderheit des Romans liegt somit in seiner Unmittelbarkeit, kontinuierlich schimmern die Gedanken der jeweiligen Ich-ProtagonistInnen durch: „Im Flur ist die Musik noch lauter. Grasgeruch entströmt allen Ritzen der Judit-Wohnung. Dabei ist die Frau mindestens vierzig … Dass sich aus dem Haus noch niemand beschwert hat. Feiglinge, elendige. Ich klopfe an die Milchglasscheibe des Gangfensters. Der Frau das Du anzubieten war ein Kardinalfehler. Alles wird kompliziert durch ein Du.“ Auer hat eine Vorliebe für rasche Szenenwechsel und Schnitte. Zwangsläufig gilt es somit unterschiedliche Settings darzustellen, die Beschreibungen gleichen dabei den Regieanweisungen für ein Bühnenbild: „Mama hat die Jalousien raufgezogen. Bett, Kasten, Schreibtisch, Bücherregal, die kleine Couch, meine E-Gitarre werden wieder sichtbar. Bob Dylan, Bob Marley und Buddha blicken auf mich herunter.“ (Vgl. Leseprobe) Gekonnt skizziert der Autor prototypische Szenarien vom verstaubten Jugendzimmer über die Studenten-WG und das typische Wiener Beisl bis hin zur von unheimlichen Kreaturen beherrschten Unterwelt.

Fallen ist ein ambitionierteres Romanprojekt, auf 240 Seiten und in 53 Kapiteln legt Auer nicht nur ein rasantes Tempo an den Tag, sondern spielt mit Stoffen, Perspektiven und Sprachvarietäten – und dehnt damit die Grenzen des Erzählens. Auer zaudert nicht, teilweise in charmantem österreichischem Deutsch erzählt, entwickelt er eine haarsträubende Geschichte über die Allmacht der Phantasie, individuelle Wünsche und Ängste. Damit gerät der Roman zu einem bizarren Verwirrspiel.

Paul Auer Fallen
Roman.
Wien: Septime, 2020.
240 S.; geb.
ISBN 978-3-902711-88-5.

Rezension vom 04.10.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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