#Roman

Fern

Marie-Thérèse Kerschbaumer

// Rezension von Helmuth Schönauer

Es ist erstaunlich, was dieses kurze Wort „fern“ alles auslösen kann, wenn man sich genauer damit beschäftigt. Marie-Thérèse Kerschbaumer schickt in ihrem Roman Fern die neunzehnjährige Barbarina aus den früheren Büchern „Die Fremde“ und „Ausfahrt“ auf eine Reise durch Europa und durch die Geschichte. Mit großer Neugierde und frischem Elan versucht Barbarina, alle Partikel des Lebens aufzusaugen.
Äußerer Anlaß für die Reise nach innen ist ein Aufenthalt in einem wohlbestallten toskanischen Haushalt, in dem Barbarina von der Kinderbetreuung bis zum psychotherapeutischen Noteinsatz alles zum ersten Mal erlebt.

Fern ist der Zustand, in dem man die Dinge noch steuern kann und die Situationen noch offen sind für jede mögliche Deutung. Dieser positive Aspekt der Ferne führt zu einer großen Lebenslust, mit der Barbarina die Umgebung erkundet. Die Kultur des Essens, Kochens, der harmonische Ablauf von Haushaltsereignissen, Festvorbereitungen und Ausflüge sind für jemanden, der zu all diesen Aktionen noch die Sprache dazulernen muß, eine anstrengende und aufregende Angelegenheit. Das Meer ist schließlich der Höhepunkt der Erkundungsreise, es ist schon lange da, ehe man es sieht und riecht.
Fern ist aber auch ein Zustand der Kälte und der Distanz, mitten in der allgemeinen Feierlichkeit einer glatten großbürgerlichen Herrschaftsfamilie steht Barbarina abseits und sinnt darüber nach, wie man sich Dingen nähern könnte, die außerhalb der eigenen Reichweite und des eigenen gesellschaftlichen Status liegen.

Marie-Thérèse Kerschbaumers Roman zeigt in unzähligen Facetten, wie die Empfindungen der Heldin letztlich immer wieder in ihrer Deutlichkeit nachlassen und in einen Empfindungsbrei zu versinken drohen. Nur äußerste Konzentration und Anstrengung vermögen die Distanz zwischen Subjekt und Objekt für einige Zeit so zu verdichten, daß so etwas wie Nähe entsteht. Im Prinzip ist alles fern, was uns umgibt. Die Kälte des Weltraums und das Plätschern des Flusses, der kommentarlos am Ufer vorüberfließt, sind gleich fern. Von den Menschen und ihren Geschichten gar nicht zu reden.

Im Roman werden höchst kunstvoll verschiedene Erzählstrategien eingesetzt, sodaß die aufmerksame Leserschaft immer auch belohnt wird, wenn sich durch Anspielungen auf verschiedene Leserfahrungen die eine oder andere Reaktivierung des Leseschatzes ergibt. („Für mich hat Lesen etwas mit Fließen zu tun“, heißt eine sensible Studie Marie-Thérèse Kerschbaumers aus dem Jahre 1990 über das Reaktivieren von Leseerfahrungen.)
So entsprechen die geographischen Gegebenheiten wie im poetischen Realismus den Gefühlslagen der Heldin. Vom frostigen Nordwesten kommend, erlebt das Mädchen in Tirol den absoluten Gefrierpunkt, ehe es nach Süden geht, wo Licht, Aufklärung und Wärme wohnen. Im Sinne der Education sentimentale von Flaubert dienen die einzelnen Episoden dazu, wie Prismen die einzelnen Ideen zu brechen, damit am Ende mehr entsteht als die Summe von Erfahrungen, so etwas, was man romantisch die Bildung des Herzens nennen könnte.

Fern ist trotz der Kälte, die immer wieder den Entwicklungsschub bremst, ein erwärmender Roman, denn es gibt letztlich nur eine Möglichkeit, das Leben aufzuhellen: Wachsamkeit.

Marie-Thérèse Kerschbaumer Fern
Roman.
Klagenfurt / Celovec: Wieser, 2000.
301 S.; geb.
ISBN 3-85129-310-X.

Rezension vom 12.01.2001

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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