#Roman

Fliege fort, fliege fort

Paulus Hochgatterer

// Rezension von Veronika Hofeneder

Endlich ist wieder was passiert in Furth am See, Paulus Hochgatters fiktiver Kleinstadt, und es kommt gut acht Jahre nach dem Fall um das Matratzenhaus zu einem Wiedersehen mit dem Ermittlerduo Kommissar Ludwig Kovacs und Psychiater Raffael Horn.

Diesmal erschüttert eine Serie von Attentaten auf ältere Menschen die nur aus touristischer Außensicht intakte Idylle der Kleinstadtkulisse, hinzu kommt noch die Entführung eines zehnjährigen Mädchens. Außerdem haben es Kovacs und Horn auch mit besprayten Fassaden und brennenden Autos zu tun, was vor allem letzterem die Grenzen seiner Rolle als Vater vor Augen führt. Bei den Opfern der Attentate ist auffällig, dass ihre Schilderungen der Tathergänge nicht mit den erlittenen Verletzungen übereinstimmen, wobei – so viel sei hier als einziger Spoiler verraten – zu Tode kommt in diesem Kriminalroman niemand. Das ist auch nicht nötig, denn Hochgatterer entfaltet ganz ohne plakatives Blutvergießen eine Spirale des Grauens, deren unheimlicher Atmosphäre man sich als LeserIn kaum entziehen kann. Sein und Schein liegen in der Romanwelt oft sehr weit auseinander und auch die Rollenzuschreibungen von Tätern und Opfern sind nicht immer ganz eindeutig definiert. Wie zumeist bei Hochgatterer spielen Kinder im Roman eine zentrale Rolle, es geht um Verbrechen, die ihnen widerfahren (sind) und was diese mit und aus ihnen machen. Als Handlungsmotor kann daher durchaus gelten, was der kleine Bruder des entführten Mädchens den ermittelnden Polizisten erklärt, nämlich „sein Vater habe gesagt, wer in seinem Leben genug Böses erfahre, Bomben und Kopfabschneiden, werde selbst auch böse. Das könne man zum Beispiel an den Leuten aus der Burg sehen.“ (122) Die Burg ist ein ehemaliges Kinderheim, das nun als Auffanglager für minderjährige Flüchtlinge dient; für Konfliktpotenzial – nicht nur mit der SEA (Sondereinheit Ausreise) – ist gesorgt.

Und hier zeigt sich einmal mehr die Raffinesse des Erzählers Hochgatterer, dem es dank seiner Strategie, die Dinge nicht wortreich bis ins letzte Detail auszuerzählen, gelingt, viele verschiedene Themen (auch aktuelle politische) in seinen Roman aufzunehmen, ohne diesen zu überfrachten. Er braucht keine drastischen Schilderungen, um Gewalt und Brutalität auszudrücken, das Wesentliche steht bei ihm nämlich zwischen den Sätzen und die derart beim Lesen erzeugten Bilder sind ungleich eindrücklicher als die genau ausformulierten.

Aus dem Vollen schöpft Hochgatterer auch bei seinen Figuren, die so charakteristisch wie zahlreich seinen Roman bevölkern. So ist man als LeserIn zunächst ganz schön gefordert, die Übersicht über die vielen verschiedenen Namen und Persönlichkeiten aus Arbeits- und Familienumfeld der beiden Ermittler zu behalten, die ohne lange Einführungsfloskeln die Szenerie betreten und rasch zu Wort kommen oder zur Tat schreiten. Außerdem wechselt auch die Erzählperspektive immer wieder, alternierend wird aus der Sicht von Horn, Kovacs, der Leiterin des örtlichen Jugendzentrums und des Entführers erzählt. Hat man aber dann schlussendlich den Durchblick, eröffnet sich ein höchst geschickt konstruiertes Beziehungsnetz von Figuren und Motiven, in dem alles ineinander greift: „Alles hat mit allem zu tun“ (258). Daher ist es nur stimmig, wenn auch das Privatleben der Protagonisten nicht ausgespart wird und über deren privates Krisenmanagement berichtet wird: So ist Horn vom Konflikt mit seinem Sohn, dessen künstlerischen Ambitionen er nichts abgewinnen kann, beansprucht und Kovacs von Herzrhythmusstörungen geplagt, deren vermeintliche Schicksalhaftigkeit erst die von seiner Tochter vereinbarte Vorsorgeuntersuchung beim Internisten in rationalere Bahnen lenken kann. Auch hier bleibt Hochgatterer immer stringent, das alles in allem funktionierende Privatleben, und hier insbesondere das glückliche Liebesleben seiner Protagonisten sind wohltuende Gegensätze zu den zerrütteten Verhältnissen im Ermittlungsumfeld. Einmal lässt er Horn frühmorgens auf den Berg steigen, um festzustellen „[d]ort und da brauchte man ein wenig Kitsch im Leben. Seit einiger Zeit fühlte er sich alt genug, um sich dagegen nicht mehr wehren zu müssen.“ (145) Und so ist Fliege fort, fliege fort – der Titel ist übrigens ein Zitat aus der Schlussszene des Faust I, wo diese Worte mit der Stimme ihres getöteten Kindes aus Gretchens Mund kommen – nicht nur ein spannender Kriminalroman, sondern auch ein Roman über die glücklichen Momente im Leben, die es zu schätzen und zu genießen gilt.

Paulus Hochgatterer Fliege fort, fliege fort
Roman.
Wien: Deuticke, 2019.
288 S.; geb.
ISBN 978-3-552-06403-4.

Rezension vom 24.09.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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