#Roman

Flussgeister

Patricia Brooks

// Rezension von Janko Ferk

Sechzig Wochenstunden sind zu viel

In Flussgeister erzählt Patricia Brooks von Adam, einem siebenundvierzigjährigen Wiener Rechtsanwalt, der aussteigt.

Nach langjähriger erfolgreicher Berufstätigkeit — er „hatte so viel erreicht“ — fühlt Adam eine Leere, die weder die Beziehung mit seiner Partnerin Natalie noch seine Arbeit füllen können. Von heute auf morgen zieht er in eine Blockhütte an der Donau in der Nähe von Wien. Dort will er Perspektiven für seine Zukunft entwickeln, was ihm nicht leichtfällt.

Die bescheidene Holzhütte und überhaupt die ganze Kleingartensiedlung und deren Bewohner sind ein Gegenprogramm zu seinem Leben in Wien mit schicker Wohnung und Anwaltskanzlei. Die Atmosphäre dort hat etwas von Ernst Hinterbergers genialer ORF-TV-Serie Kaisermühlen Blues. In dieser neuen und ungewohnten Umgebung lernt Adam die eigenwillige und rätselhafte Lola kennen. Sie freunden sich langsam an, es dauert eine Zeit – was die Geschichte jedoch spannend macht – bis Adam nach und nach von den Schicksalsschlägen erfährt, die seine neue Freundin in ihrem fünfunddreißigjährigen Leben schon erlitten hat: Sie lag monatelang im Koma nach einem brutalen Überfall, an dessen Folgen sie immer noch laboriert. Als wäre das nicht schon genug, wütet in Lolas Körper ein Krieg: sie hat Unterleibskrebs und ist in Behandlung im Wiener Allgemeinen Krankenhaus.

Doch Lola schont sich nicht, sie nimmt sich, was sie kriegen kann, und „vögelt“ — um in der Sprache des Buches zu bleiben — mit verschiedenen Männern. Gespannt wartet man viele Buchseiten lang, wann Adam an der Reihe ist — eine Frage, die hier nicht beantwortet wird. Mit seiner Partnerin Natalie jedenfalls läuft schon lange nichts mehr:„Adam wollte nichts, was sie ihm nicht gerne gab, und so hörten sie auf, miteinander Sex zu haben.“

Die Freundschaft mit Lola verändert Adams Sicht auf den Beruf, das Leben und überhaupt die Welt. Wir erfahren, dass Adam sich nach der Matura trotz bestandener Aufnahmeprüfung an der Kunstakademie „im letzten Augenblick“ doch für die Rechtswissenschaften entschieden hat. Jetzt nimmt Adam aber diesen vor langer Zeit gekappten Faden wieder auf: er zeichnet und baut Skulpturen aus vom Donauwasser angespültem Material.

Patricia Brooks erzählt die Geschichte eines Menschen der seinen Weg verloren hat mit Gespür für Spannung und viel Empathie für ihre Protagonisten und in einer Sprache, die präzise ist und bis ins Detail auskunftsfreudig. Die Sicherheit, mir der sie sich beispielsweise in der Advokatur bewegt, zeugt von gründlicher Recherche und genauer Beobachtung.

Ihre Naturbeschreibungen sind zeitgemäßer als bei Adalbert Stifter und aufregender als bei Peter Handke. Brooks‘ Natur lebt, jene Handkes ist statisch. „Da ist eine Stille, in der der Schnee alle Geräusche verschluckt, eine unglaubliche Schönheit, die über der Landschaft liegt.“ (Stifter? Handke? Brooks!)

Flussgeister ist ein ausgezeichneter Roman, an dem mich lediglich die vielen Dativ-es stören, die sollten sich in einem heutigen Deutsch doch langsam abschleifen.
Schon einmal habe ich es geschrieben, mehrmals gesagt und ich wiederhole es hier bewusst nicht nach einem Doppelpunkt, sondern meinem Punkt. Patricia Brooks ist eine große österreichische Schriftstellerin.


Janko Ferk
arbeitet und lebt in Klagenfurt und Graz. An der Universität Wien studierte er Rechtswissenschaften, Deutsche Philologie sowie Geschichte und promovierte mit einer Arbeit über die Rechtsphilosophie bei Franz Kafka. Er ist Jurist, Honorarprofessor an der Universität Klagenfurt/Univerza v Celovcu und Schriftsteller. Er hat mehrere Bücher zur Kafka-Forschung vorgelegt, in denen er eine eigenständige Methode der Auslegung entwickelt hat. Zuletzt veröffentlichte er die Reisemonografie Der Drei-Länder-Weg (Edition Kleine Zeitung, 2024) und die Monografie Peter Handke. Begleitschreiben, Gespräche und Zustimmungen (LIT Verlag, 2024). In Kürze erscheint im Löcker Verlag die Erzählung Mein Leben. Meine Freunde. Im Juni 2024 wurde Janko Ferk mit dem Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst ausgezeichnet.

Patricia Brooks Flussgeister
Roman.

Wien: Septime Verlag, 2023.
188 Seiten, kartoniert.
ISBN 978-3-99120-028-4.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin sowie einer Leseprobe

Homepage von Patricia Brooks

Rezension vom 04.11.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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