Die Frage nach der Rezeption von Literatur bei Thomas Bernhard ist angesichts der Vehemenz, mit der seine Protagonisten Schriftsteller und Philosophen „beanspruchen“, eine besonders interessante. Es ist daher nur verwunderlich, dass erst jetzt eine umfassende Analyse der Beziehung zur französischen Literatur vorliegt – schließlich stößt man bei Bernhard alle paar Seiten auf Voltaire, Pascal oder Montaigne. Walter Wagner hat mit seiner vorliegenden Studie also ziemliches Neuland beschritten. Die Genauigkeit und Behutsamkeit, mit der der Verfasser dabei zu Werke ging, macht die Lektüre lohnenswert.
Wie stand es zunächst einmal mit Bernhards Fremdsprachenkenntnissen? Konnte der Schriftsteller z. B. Montaigne im Original lesen? Zeugnissen von Freunden zufolge dürften seine Kenntnisse dazu nicht gereicht haben. Andererseits decken sich die von Bernhard verwendeten Übersetzungen selten mit den entsprechenden deutschen Buchausgaben. Wurden sie also doch von Bernhard selbst übersetzt? Wahrscheinlich ist, dass sich der Schriftsteller die poetische Freiheit genommen hat, gängige Übersetzungen „umzuschreiben“.
Ein Blick in die „Werkstatt“ des Dichters führt uns da weiter. Walter Wagner kann nachweisen, dass Bernhards „Zitate“ von (französischen) Schriftstellern des öfteren durchaus freie, subjektive Adaptionen des Originals sind. Ein Beispiel: Montaigne schreibt über sein eigenes Werk: „[…] und brauche Niemanden dafür Rechnung zu geben: dennoch traue ich mir nicht durchgängig.“ (S. 13). Bernhard übernimmt den Satz bis zum Doppelpunkt; die Skepsis aus dem Nachsatz lässt er weg. Das berühmte Eingangszitat am Auslöschung sei hier auch noch erwähnt: Im Original „zwickt“ der Tod Montaigne, bei Bernhard hat er „[den Menschen] in seinen Klauen“ (S. 38)
Der freie Umgang mit vorhandenem Material dürfte bei Bernhard also gängig gewesen sein. Die „Hitliste“ der französischen Autoren führt übrigens Pascal mit 70 Zitaten knapp vor Montaigne an (wobei dieser im Spätwerk kräftig „aufgeholt“ hat), danach kommen mit einigem Abstand Voltaire, Descartes und Baudelaire. Weit abgeschlagen das 20. Jahrhundert mit Proust, Valéry, Sartre und anderen. Der größte Teil von Walter Wagners Untersuchung widmet sich den wesentlichen inhaltlichen Parallelen zwischen den französischen Schriftstellern und Bernhard. Die Essais von Montaigne werden maßgeblich, wenn es etwa um Tod, Krankheit, Selbstmord geht. Die negative Beurteilung des Ärztestandes (in Verstörung) lässt sich auf Diderots Schrift Mystifikation beziehen. Ebenso dessen Dialog Rameaus Neffe auf Bernhards Erzählung Wittgensteins Neffe. Pascals Begriff des „Divertissement“ („Ablenkung“, „Zerstreuung“) nimmt der Österreicher auf und verwandelt ihn in einen Wiederholungsautomatismus. Und auf Spuren von Sartres Die Wörter und Rousseaus Bekenntnissen stößt man in Bernhards fünfteiliger Autobiografie.
Als Fazit zu dieser kenntnisreichen Studie über Bernhard kann man den Verfasser selbst zitieren: „Ein erster Schritt ist mit diesem Entwurf einer themenorientierten, mit Blick nach Frankreich konzipierten Rezeptionsästhetik getan, weitere Recherchen werden notwendig sein, um den Stellenwert der französischen Literatur im Werk Thomas Bernhards noch besser verstehen und sein Verhältnis zur Weltliteratur umfassend beschreiben zu können.“ (S.138)