transiente globale amnesie
eine stunde fehlte mir
sie fiel aus dem gedächtnis
und versteckte sich
ich weiß nicht wo
doch bin ich froh
dass du zugegen warst
und mir erzähltest
was ich sprach und tat
ein leben fast
aus zweiter hand (S. 16)
Es sind einfache Beobachtungen wie diese, die den neuen Lyrik-Band des gebürtigen Niederösterreichers kennzeichnen. Ob die Motive körperlicher Versehrtheit oder intellektueller Abnützungserscheinungen in skurrilen Bildern auftauchen oder in stillen Betrachtungen, ändert nichts an ihrer Unaufdringlichkeit. Weder sind in diesen minimalistischen Szenen sprachartistische Strophen enthalten, die mit prallem Symbolismus viele Türen öffnen, noch verstricken sie sich in penibler Selbsterkundung. Es sind auch keine einem prägnanten Rhythmus folgenden Gedichte. Sie bleiben in ihrer leichten Tonalität dem verpflichtet, was der Titel-Zusatz verspricht: alltagsgedichte. Wären sie etwa metrisch gebunden, würden sie schon aus dem Alltag fallen, den Vyoral als thematische Klammer für seinen Band gewählt hat.
Ein weiteres Ordnungsmittel ist der Jahresverlauf. Von der zarten Ahnung eines Frühlings machen sich die Gedichte auf und genießen einen heißen Sommer, um dann wieder einzukehren in ruhige Häuslichkeit und winterfeste Stuben. Immer wieder umkreisen die Texte die Beziehung zum Schreiben. Wie ein Text entsteht oder eben auch nicht. In der oftmals zu erkennenden ironischen Färbung ist gelegentlich eine poetische Perspektive auszumachen, die es versteht, Fragen so zu stellen, dass sie haften bleiben und den Lesenden noch länger nähren:
wozu ein gedicht gut ist
ein gedicht
kann man trinken
oder langsam zerkauen,
man kann es vorlesen
abschreiben
& das blatt in die berge tragen,
man kann auf dem gipfel
einen papierflieger falten,
auch fliegen kann man
mit einem gedicht (S. 47)
Wieder ist zu erkennen, dass Vyorals poetologisches Verfahren keine Überhöhung ist oder eine formzertrümmernde Geste. Vielmehr steht meist eine Beobachtung im Mittelpunkt, die en passant etwas mitnimmt aus einem Alltag, der mit Nebensächlichem prall gefüllt zu sein scheint, und diesen dadurch erleuchtet. Die Bezeichnung „Alltagsgedichte“ lässt mehrere Deutungen zu: mir erschließt sich das Konzept dieser Auswahl gerade aus der Verknüpfung dieser Deutungen. Im Alltag gefunden, regen verschiedene Motive an, sie in einen literarischen Text zu verwandeln. Dabei soll es aber zu keiner Wertung des täglichen Lebens kommen. Der oft negativ konnotierte Begriff Alltag bleibt hier neutral. Gleichzeitig brechen die großen Themen auch in die Eintönigkeit ein und kolonisieren sie. So entsteht gerade durch den alltagsspezifischen Blick eine Eingemeindung dieser Themen in ein unspektakuläres, von uns allen geführtes Leben.
Helwig Brunner, der Herausgeber der keiper lyrik-Reihe, beschreibt in seinem Nachwort diese „Schnappschüsse“: „Als hätte er stets im rechten Moment eine Kompaktkamera zur Hand, lichtet Vyoral Gegebenheiten und Begebenheiten des täglichen Lebens ab, …“ (S. 110)
Tatsächlich heißt auch ein Gedicht schnappschuss. Darin wird das unaufhörliche Verstreichen der Zeit und die damit verbundene Graufärbung der Haare mit einem Foto verbunden, das später zur nostalgischen Feststellung führen wird, wie jung man damals war. Fotos zwingen uns immer, einen Blick in die Vergangenheit auf. Im Zentrum dieses Gedichts steht der Einfall und die Verknüpfung mit einer Beobachtung, die fest zum Inventar des Alltags im Alter gehört, eben diese Frage nach dem Verschwinden des vertrauten Bildnisses.
Hannes Vyoral ist dieses Jahr 71 Jahre alt geworden. Nichts Dramatisches möchte man meinen, wenn man seine Gedichte liest. Viel hat in diesen Jahren Platz gefunden, etwa die Geschäftsführung der IG Autorinnen Autoren oder auch sein Engagement als Literatur- und Kulturvermittler bei der Schriftstellervereinigung PODIUM.
Ein anderes Mal verknüpft sich die Wahrnehmung von Schallwellen mit einem Einfall über innige Verbundenheit zu einem Menschen:
echo der berge
verblüfft
gewahrte ich
dass die felswand
dich genauso liebt
wie ich
auch sie rief
herzzerreißend
deinen namen
lauter und
mit hall (S. 46)
Große Themen wie eine herzzerreißende Liebe geraten durch dieses Verfahren zu handlichen Größen. Man kann sie drehen und wenden, sie fühlen sich nicht mehr zentnerschwer und abstrakt an. Die Felswand wirft keine Bilderlawinen ab, sondern besticht durch genau ein Bild. In den Gedichten über den Tod findet sich keine Anklage, es sind jedoch keine Gedichte des Sterbens, keine von Leiden und durch Schmerzmittel gestillte Wartezeiten vor dem Endausgang: Der Körper funktioniert eben noch, spendet manchmal Freude und ist – obschon ein wenig verbeult wie ein altes Fahrrad – immer noch fahrtüchtig. Einmal erfreut sich der Lyriker an dem stimmungsvollen Wort „Radlerwadeln“. Da dürfte Hannes Vyoral wieder kurz die Narrenkappe justiert haben; manchmal nur für ein Wort! Zuweilen mischt sich eine altersweise Milde in diese Befunde unaufhaltsam näherkommender Vergänglichkeit:
besuch
wenn der tod naht
und die sense schwingt
sage ich zu ihm
du kommst zu spät
die zeit
da du mich
überraschen konntest
ist vorbei (S. 86)
Ein Charakteristikum des Bandes erschließt sich erst beim Lesen des Inhaltsverzeichnisses. Hier offenbaren die Gedicht-Titel Widmungen. Es ist erstaunlich, wie viele Texte hier eine konkrete Adressatin oder einen konkreten Adressaten haben. Dem Autor und Freibord-Herausgeber Gerhard Jaschke etwa ist dieses, fast konfuzianisch versöhnlich stimmende Gedichte zugeeignet:
so oder so
es ist
eine nützliche illusion
alles im griff zu haben
und geht etwas schief
freut man sich
ob des realitätsgewinns (S. 76)
Einen Band wie Vyorals frühstück wie immer zu lesen, kann ebenfalls einen Realitätsgewinn bedeuten, der Subtext dazu lautet: Fürchte dich nicht.
Alexander Peer, geb. 1971 in Salzburg, Studien in Germanistik, Philosophie und Publizistik. Peer lebt heute als freier Autor in Wien. Zahlreiche Beiträge zu Literatur, Philosophie und Architektur. www.peerfact.at
Bücher (Auswahl): Die Kunst des Überzeugens (Goldegg, ET Jänner 2025), 111 Orte im Pinzgau, die man gesehen haben muss (Emons Verlag, 2022), Gin zu Ende, achtzehn Uhr, Der Klang der stummen Verhältnisse, Bis dass der Tod uns meidet sowie Land unter ihnen (alle Limbus Verlag) sowie Ostseeatem (Wieser Verlag 2008).