#Prosa

Fußspuren nirgendwo

Ingram Hartinger

// Rezension von Manfred Mixner

„Menschliches Bewusstsein in Bewegung.“ Ohne viel nachzudenken habe ich auf die Frage, ob ich Etwas über Ingram Hartingers kürzlich erschienenes Buch „Fußspuren nirgendwo. Bruchstücke“ schreiben wolle, mit Ja geantwortet. Habe sogleich aus den Regalen meines Bücherhauses Hartingers Prosa-Bände „Schöner Schreiben“ (1986), „Roman Albino“ (1990) und „Hybris“ (1995) herausgesucht. Ich hatte sie mir seinerzeit besorgt, aber nur darin geblättert und keines richtig gelesen. Nun begann ich die vier Bücher parallel zu lesen, schrieb mir dabei Sätze und Satzteile heraus, die ich als Hinweise des Autors auf seine literarischen Intentionen empfand.

Keine konkreten Erinnerungen stellten sich ein, weder an den Autor noch an seine Texte, obwohl es ihn gibt in meinem Gedächtnis: den streitbaren Zeitgenossen, dem Vieles nicht recht war und der das auch lautstark zum Ausdruck bringen konnte. Ich wusste auch, dass er in Klagenfurt den Beruf eines Krankenhaus-Psychologen ausgeübt hat. Also habe ich mich unbefangen eingelassen auf sein „ungewissenhaftes, unerzogenes“ Schreiben „vorbei an Trächtigem und Gewichtigen“. Er wolle etwas schreiben, von dem er nicht sagen könne, was es ist, heißt es im ersten Buch. Jedenfalls „keine Geschichte, kein Subjekt – nichts.“ Und: „Dies ist kein Erzählen.“ Um einen Zugang zu den an die Schreibweisen der Autoren des „nouveau roman“ erinnernden ersten drei Prosabände Hartingers zu finden, musste ich eine Lese-Strategie wählen, die nicht vom Erfassen konsistenter Handlungsstränge, vom Agieren irgendwelcher Personen der Handlung, von der Entschlüsselung der zeitlichen und räumlichen Struktur der Geschichte(n) bestimmt wird. Lesend versuchte ich in meinem Bewusstsein eine möglichst vollständige sinnliche Repräsentation der Wirklichkeit herzustellen, auf die Sätze, Satzteile oder einzelne Worte möglicherweise verweisen. Ich versuchte, die beim Lesen automatisch sich einstellenden Konstruktionen von Bedeutungszusammenhängen in den Hintergrund zu drängen, beließ die Bausteine des Textes so lose, wie sie der Autor aneinandergereiht und aufgeschichtet hat. Auf diese Weise realisierte ich in mir die Bilderfülle, die Szenenfolgen, die Traumsequenzen und die frei assoziierten Gedanken und Vorstellungen, aus denen die Prosa Hartingers besteht, ohne daraus eine Geschichte zu machen. Erkennbar wurde, wie der Autor beim Schreiben das Spiel des freien Denkens im Hintergrund alltäglichen Handelns sich entfalten hat lassen. Hartinger versichert: „Solange es Sprache ist, bin ich (in ihr) enthalten.“ Er hat seine ruhelosen Tagträume „durchstöbert“, er beobachtet „menschliches Bewusstsein in Bewegung“, „das ewige Rieseln des Denkens“, er versucht sich an all das zu erinnern, „was möglich ist“, er durchwandert „das (mein) unendliche(s) Traumland“, er hört nicht auf, „im Labyrinth seiner Assoziationen herumzulaufen“, er produziert „gedankliche Flecken und Flächen, Untertöne und Nebentöne“, und dabei „mischen sich die Dinge mit den Nicht-Dingen“. Wie in guten Kriminalfilmen erzeugt in dieser Prosa der rasche Wechsel von Totalen und von Großaufnahmen Spannung, lässt den Eindruck einer Beschleunigung entstehen, der man sich als Leser nur schwer entziehen kann – wenn man sich denn einmal auf diese Art der Prosa eingelassen hat.

Jedes der ersten drei Prosabücher hat eine eigene spezielle Gliederung des epischen Sprachflusses. In den „Fußspuren nirgendwo“ sind die einzelnen, sehr kurzen Prosa-Sequenzen explizit Fragmente, die sich zu einem größeren (biographischen) Ganzen fügen, und sie sind jeweils mit einer Überschrift versehen. Es sind meist nicht mehr als eine oder zwei Seiten lange poetische Einheiten, die alle einen durchscheinenden, konkreten Erfahrungs-Hintergrund haben. Immer wieder könnte man die Texte auch in Verszeilen auflösen und als Gedichte lesen. Was sie zusammenhält, ist die nicht immer eindeutig auf eine Selbstreflexion hinweisende Du-Form. Die unbestimmte Zwiesprache des schreibenden Ichs mit sich selbst ist sowohl eine Spielart der rhetorischen Bekräftigung des Wirklichkeitsgehaltes der Texte, als auch eine vage Einbeziehung des Lesers in den Erzählfluss. „Du bist die Wirklichkeit“, heißt es an einer Stelle, und dann: „Du sehnst die ungefüge Mimesis“. Manchmal hatte ich den Eindruck, ungeordnete Aufzeichnungen von Leseerfahrungen, von Reisen, konkreten Alltagserlebnissen, Erinnerungen, Träumen, Wunschvorstellungen, Begegnungen oder auch Trennungen zu lesen. Da die Grenzen zwischen dem Lyrischen und dem Erzählenden verwischt sind, die Text-Elemente wie in der frühen Prosa Hartingers keinem Gebot der Einheit von Zeit und Raum gehorchen, entsteht eine ganz eigene phantasmagorische Abfolge von immer wieder springenden, farbenprächtigen und symbolträchtigen Bildern.

Die Prosa-Fragmente in den „Fußspuren“ Hartingers vermitteln (s)ein zwischen Glücksmomenten und Melancholie, zwischen Erfolg und Scheitern, zwischen Fröhlichkeit und Trauer schwankendes Lebensgefühl. Es ist die poetische Reflexion des Autors, wie alles so geworden ist, ein in Schwebe gehaltenes poetisches Resümee seiner Lebens-Erfahrungen. Er hat seine Prosa einmal als „die seltsamen Bildnisse zwischen meinem Leben als Kaputt-Psychologe und den ruhelosen Tagträumen“ bezeichnet. Hartinger hat nach seinem Studium zwei Jahre in Triest in der offenen Psychiatrie Franco Basaglias gearbeitet. Dass er als politisch engagierter Mensch mit seinen dabei gewonnenen Einsichten als Krankenhaus-Psychologe in Klagenfurt nicht immer glücklich war, ist oft angedeutet. Ohne deutlich sich selbst ansprechend („Ich wurde jedenfalls namentlich nicht angeführt“) sieht er sich „im ständigen Wünschen nach einem Ich steckengeblieben“, er spricht vom „Misslingen eines Mehrleben-Lebens“. Selbstanalyse im strengen Sinn vermeidet Hartinger. Er reiht Einsichten aneinander, die er aus der genauen Beobachtung und stringenten Formulierung von spontanen Erinnerungen, Einbildungen, Wahrnehmungen und Phantasien gewinnt. Immer wieder hadert er mit sich als Psychologe, versucht sich von seinen Erklärungsmustern zu befreien, sich unverstellt zu sehen, sein wahres Gesicht zu zeigen. „Sag schon, wer bist du? Kennt dich wer?“ Er zersplittert seine Spiegelbilder, gibt sich nur in den Scherben zu erkennen. „Ich drehe mich nach mir um, aber ich schlafe schon.“

Seinem Ideal des inhaltlosen, aber dafür phantasievoll-farbenprächtigen schöneren Schreibens versucht er auch in diesem neuen Buch, mit dem er sich selber ganz nahe gekommen ist, treu zu bleiben. Gerade in der Verweigerung des konventionellen autobiographischen Schreibens öffnet er dem Leser den Blick auf den Geschichtenhorizont seines Lebens. Er will keine Lehren aus seinen Selbstwahrnehmungen und Wirklichkeitserfahrungen ziehen, er widersteht allen Versuchungen, sich in die Begriffe eines Normensystems zu flüchten. Seinen „Fußspuren“ folgend will er sich als alter Schriftsteller noch einmal in seiner Lebenswelt zurecht finden. Zwischen der uralten Sehnsucht nach dem Meer des Südens und der in den Kindheitstagen im Steinernen Meer erfahrenen Herausforderung der Gebirge bewegen sich seine Traumbilder in einer zerklüfteten, zerfurchten Landschaft. In dem Klagenfurt, in dem er dreißig Jahre lang gearbeitet und in dem er länger noch gewohnt hat, ist er nicht wirklich heimisch geworden. Was er hier wahrnimmt, was er hier liest, was er sich hier einbildet, die Idyllen, das Grauen, mit dem kommt er zurecht. „Stifter lesend“ vergewissert er sich, dass er nunmehr „furchtlos durch diese dunklen Gänge“ zu kriechen gelernt hat. Also hat er auch gelernt, mit seinen Widersprüchen zu leben, mit seinen Albträumen wie mit den geglückten Tagen. Und aufmerksam lesend kommst auch du deinen eigenen Widersprüchen, den verborgenen „unbändigen Phantasmen“ deines Lebens auf die Spur. Auch wenn seine Veröffentlichungen bislang (sieht man von den Rezensionen Erik Adams ab) keine angemessene Resonanz im österreichischen Literaturbetrieb gefunden haben, so ist Ingram Hartinger doch zweifellos einer der interessantesten Autoren Österreichs.

Ingram Hartinger Fußspuren nirgendwo
Bruchstücke.
Graz: edition keiper, 2021.
220 S.; geb.
ISBN 978-3-903322-31-8.

Rezension vom 25.05.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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