#Sachbuch

Gedächtnis und Geschlecht

Insa Eschebach, Sigrid Jacobeit, Silke Wenk (Hg.)

// Rezension von Christina Kleiser

Aus der feministischen Wissenschaftskritik gelangt der Vorwurf an die traditionelle empirische Forschung, diese könne die Interessen und Erfahrungen von Frauen – Frauen als Erkenntnisobjekte – im Rahmen bestehender Modelle nicht adäquat erfassen. Feministinnen wie Sandra Harding und Judith Butler haben auf die Notwendigkeit, „Geschlecht“ als theoretische sowie „Gender“ als analytische Kategorien zu formulieren, hingewiesen.

Der Tagungsband „Gedächtnis und Geschlecht“ versammelt die Beiträge des letzten internationalen Kolloquiums „Zum Umgang mit der Geschichte der Konzentrationslager in beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften“, das 1999 in einer Reihe internationaler wissenschaftlicher Konferenzen zum „Forschungsschwerpunkt Ravensbrück“ in der Mahn- und Gedenkstätte des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück veranstaltet wurde. Neben den drei Herausgeberinnen Insa Eschebach, Sigrid Jacobeit und Silke Wenk sind dabei ausschließlich Frauen für eine Auseinandersetzung mit „kulturellem Gedächtnis“ und Geschlechterdifferenz, für eine genderspezifische Wahrnehmung, Beschreibung und Bewertung des nationalsozialistischen Genozids verantwortlich. In einer profunden, den aktuellen Stand der Forschung berücksichtigenden Einführung beschreiben Eschebach und Wenk, „wie Vorstellungen von der Natur des ‚Weiblichen‘ und des ‚Männlichen‘ dazu führten, dass viele Geschichten und Erfahrungen im Gedenken keinen oder nur einen marginalen Platz finden konnten, dass sie verdrängt oder verleugnet wurden.“ Die vier Abteilungen des Sammelbandes „Verleugnungen“, „Sakralisierungen“, „Sexualisierungen“ und „Verschiebungen“ mit jeweils vier bzw. fünf Beiträgen markieren in Anlehnung an das Begriffsinstrumentarium der Psychoanalyse bislang unhinterfragte Praktiken und Darstellungsformen des Erinnerns.

Lehrreich sind die Einsichten in historische und soziale Konstruktionen von Gemeinschaft und Gedächtnis, insbesondere von „nationaler Gemeinschaft“ und „kollektivem Gedächtnis“, und ihre genderbedingten Verschränkungen, wie es beispielsweise Atina Grossmann für die Kategorie „Verschiebungen“ am baby boom jüdischer Überlebender in den Lagern für „Displaced Persons“ aufgezeigt hat. Hier präfiguriert die schwangere Frau eine imaginäre Nation, die man in Palästina zu realisieren hoffte. Eine Kehrseite dieses auf Hoffnung und bessere Zukunft fixierten Weiblichkeitsbildes stellt die Lagerhure dar. Anhand der Kategorie „Sexualisierungen“ analysiert Alexandra Przyrembel Gegenbilder des unschuldigen weiblichen Opfers wie das der dämonischen Einzeltäterin am Beispiel der „Kommandeuse von Buchenwald“. Deutlich werde, so Eschebach und Wenk in ihrer Einführung, dass im Fall weiblicher Täterschaft die Ursache der Verbrechen in der vermeintlich abnormen Sexualität der Frauen gesucht wird. Mit dieser Aussage unterstreichen die Herausgeberinnen ihre Behauptung der Dichotomie von Weiblichkeitsbildern: „Der reinen, entsexualisierten Frau und Mutter steht die Verführte und Verführende, die sexualisierte Frau […] antithetisch gegenüber.“

Bemerkenswert sind schließlich die mittels einer semiologischen, diskursanalytischen Vorgehensweise dargelegten Ergebnisse von Corinna Tomberger, ebenfalls in der Abteilung „Verschiebungen“. In Auseinandersetzung mit der „Wiederkehr des Künstler-Helden“ zeigt Tomberger Arbeits- bzw. Werk- und Wirkstrukturen (das Motiv des Außenseiters, des Verweigerers) zur Inszenierung einer noch heute vordringlich „männlichen“ Vergangenheitsbewältigung – durch Wiederherstellung des Helden, des Künstlers (als Autor). Tombergers These besagt, dass dieser Art hergestellte Autorschaft, die Autorschaftskonstruktion, im Rückgriff auf tradierte Mythen von Künstlerschaft und Männlichkeit einen spezifischen Künstlerentwurf bereitstelle: den Künstler als Vergangenheitsbewältiger. Demgegenüber entschwindet, dargestellt an dem spezifischen Fall der Konzeptentwicklung und Umsetzung des so genannten „Harburger Mahnmals“ durch das Künstlerpaar Esther Shalev-Gerz und Jochen Gerz, der Anteil der Frau an der künstlerischen wie alltagspraktischen Erinnerungsarbeit – insbesondere durch Strategien der „Auslassung“ – aus der Tagespresse, aus dem Gedächtnis …

Mit einem transdisziplinär ausgerichteten Angebot differenzierender Deutungsmodelle sowie analytisch reflektierten Erkenntnissen zur Funktionsweise des so genannten „kulturellen Gedächtnisses“ beinhaltet dieser Sammelband weit mehr an innovativer Forschungspraktik als der pragmatisch gewählte Titel „Gedächtnis und Geschlecht“ auf den ersten Blick vermuten lässt. Als „feministische Kritik des Erinnerns“ (Johanna Schaffer) ist er ein notwendiges Grundlagenwerk für jede Beschäftigung und ernstzunehmende Auseinandersetzung mit den verschiedenen – geschlechterspezifischen – Formen und Vorstellungen von Gedächtnis und nationaler Erinnerungskultur.

Insa Eschebach, Sigrid Jacobeit, Silke Wenk (Hg.) Gedächtnis und Geschlecht
Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids.
Frankfurt am Main: Campus, 2002.
426 S.; brosch.
ISBN 3-593-37053-0.

Rezension vom 05.02.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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