In knappen Sätzen wird auf der ersten Seite etwa eine Szene geschildert, die sich der Erzählerin in ihrer Kindheit eingeschrieben haben, vom Flusswasser aber verwandelt worden sein muss, sodass sie die Erinnerung in einer überhöhten und bedrohlich wirkenden Sprache wiedergeben muss: Sie sitzt ihrer Großmutter gegenüber, die eben ein „Kehlköpflein“ „skalpiert“, mit einem Messer „Fetzchen für Fetzchen vom Köpflein“ geschabt hat und mit dem nächsten beginnt. Die Großmutter stupst eines der Kehlköpflein an und es rollt in den Schoß der Erzählerin.
Könnte man am Ende der ersten Seite noch annehmen, dass die Erzählerin sich hier an das Ausnehmen von Hühnern erinnert, wird diese Annahme auf der nächsten Seite zunichte gemacht und eine grausame Verbindung angedeutet, ohne noch konkret zu werden: Im Dorf der vergangenen Kindheit gibt es ‚lose Frauen‘, die singen, „mit den Kehlen im Wind [schlackern]. Das Dorf hört diesen Gesang nicht gerne. Er erinnert an die Tage, als das Meer über das Dorf hereinbrach. Damals herrschten paradiesische Zustände.“ Worin diese Zustände bestanden, wird nicht näher beschrieben und im nächsten Satz folgt schon das Ende des Paradieses, also der Rückzug des Meeres aus dem Dorf.
Im Konjunktiv gibt die Erzählerin zunächst Gott die Schuld dafür. Doch gleich korrigiert sie sich: Niemand bestimme „über das Schicksal von einem Menschen, einem Dorf oder einer Welt“. Kein Gott halte „das Glück in Händen“, weil es auch kein Glück gäbe. „Geben tut es überhaupt nichts, außer vielleicht die Ohnmacht, aber die ist nicht zu greifen, nicht mit Sprachfingern und schon gar nicht mit Stümpfen. Und wenn die Worte fehlen, spricht der Körper.“
Die Großmutter der Erzählerin hat solche Stümpfe. Ursprünglich, heißt es etwas weiter im Text, kam sie von einem Hügel, wo „eine andere Sprache“ wohnte. Das machte den Hügel zu einem Sehnsuchtsort für den Großvater, besonders im Herbst, wenn die Stimmen vom Wind hinunter ins Tal und weiter ins Dorf getragen wurden. Einmal drang so die Stimme der Großmutter ans Ohr des Großvaters. Die Großmutter „fuhr mit ihren Sprachfingern über das Eis unter seinen Augäpfelein, bis es schmolz, ein Rinnsal bildete und das Rinnsal bildete einen Bach und der Bach floss in den Fluss, der das Dorf still begrenzte.“ Dann setzte sie „ihr Kehlköpflein in Gang“, umgarnte den Großvater weiter. Doch es gab ein Problem: „Die Großmutter war den Flüssen zugetan. Die Menschen im Dorf aber fürchteten sich.“ Und weil der Großvater sich über die Zuneigung seiner Frau zum Gefürchteten schämte „riss er ihr die Sprachfinger aus.“
Trotz ihrer Stümpfe schneidet die Großmutter in einer anderen Kindheitserinnerung der Erzählerin „den losen Frauen geschickt die Halswand auf, holt mit dem Eiskugelformer, professionell wie eine Eisfrau, ein Kehlköpflein heraus“. Die Kehlköpflein, heißt es weiter, werden von der Großmutter und der Mutter der Erzählerin in Rexgläsern gesammelt, landen in einem Archiv und im Winter werden sie „an die Menschen im Dorf verteilt und in den kalten Zimmern auf Bäume gehängt.“ Die losen Frauen, ohne Kehlkopf, ohne Sprache, „sitzen unten am Fluss und kratzen sich die Augäpfelein aus den Augenhöhlen heraus […] und werfen sie in den Fluss hinein, damit wenigstens ihre Augäpfelein noch einmal in eine Weite gelangen.“
Die Erzählerin ist in eine solche Weite geflohen, in die Stadt. Wohl auch deshalb, weil die Großmutter ihr sagte, ihre Zeit würde bald kommen: „Die Mutter wird meinen Platz übernehmen und du dann den ihren.“ Doch die Flusssprache, um bei Haderlaps Bild zu bleiben, hält sie weiterhin gefangen, verwandelt Wörter und Geschichten. Und auch dort, in der Weite der Stadt, gibt es lose Frauen, die zum Schweigen gebracht, mundtot gemacht werden: „Es sind immer die losen Frauen, die in den Wänden verschwinden“, sagt die Erzählerin in Bezug auf Ingeborg Bachmanns Malina, und dass sie bei ihr gelesen habe, „dass niemand wieder aus den Wänden herausfallen kann, dass niemand sie aufbrechen kann, dass aus den Wänden nie etwas laut werden kann.“ Sie steht manchmal kurz vor der Aufgabe, lehnt sich gegen „die Putzperlen“ der Wand in ihrer Altbauwohnung und hofft „gleich Wand zu werden“. Doch sie atmet, sie erzählt weiter.
Etwa, dass es neben den losen Frauen und Lauers Erzählerin in der Stadt auch Menschen gibt, um deren Hälse „Ketten mit schweren Klumpen dran“ hängen. Die Erzählerin trifft auf eine Gruppe von ihnen, die nahe ihrer Wohnung im Gras einer Grünfläche liegt. Sie spricht eine der „Klumpenmenschen“ an: „Sie starrt an mir vorbei, bleibt stumm.“ „Die Stadt“, erinnert die Erzählerin sich ein paar Seiten zuvor, „ist nicht menschlich, sagten die Menschen im Dorf.“ Sind die Klumpenmenschen Ergebnis dieses Sagens, dieses Einredens, der stumpf gewordenen Hände der Großmutter, ihrer ausgerissenen Sprachfinger? Kann die Erzählerin diese Menschen in der Stadt durch die Prägung im Dorf nur als Klumpenmenschen wahrnehmen?
An die Stümpfe der Großmutter, die den losen Frauen die Kehlköpflein genommen, diese Frauen stumm gemacht haben, muss die Erzählerin jedenfalls oft denken. Schließlich haben die Stümpfe ihren „Körper zum Leben“ verführt. Ist sie zurück im Dorf, im Einfamilienhaus der Familie, kann sie dort „noch die Spuren [der] Stümpfe in den Holzlackwänden“ sehen. Sie streicht „mit den Fingerkuppen über diese Zeichen. Sie sind der Ausgangspunkt von allem. Der Beginn, der das Geheimnis birgt.“
Eines dieser Zeichen, eine dieser Spuren muss sie bereits auf der nächsten Seite erinnern: Die Mutter der Erzählerin brachte einen Sohn zur Welt, der Ziel „einer Liebe [wurde], in der ich nichts zu suchen hatte. Mein Verlust war Großmutters Gewinn.“ Die Enkelin wurde der Großmutter „Hoffnung und ihr Begehren.“ Später wird sie ihr ein Kehlköpflein in den Schoß rollen, anfangs, als ihre Tochter mit dem Enkel aus dem Krankenhaus zurückkam, legte sie ihre Stümpfe auf das Haar der Erzählerin. „Unsere Tränen vermischten sich mit Schweiß. / Das war mein Gedeih und Verderb.“
Ihre Flusssprache kann die Erzählerin auf den ersten dreißig Seiten des Romans, aus denen hier zitiert wurde, nicht aufgeben. Denn obwohl sie es in die Weite einer Stadt geschafft hat, steht sie immer noch am oder vielleicht schon im Fluss, der die Erinnerungen an eine schmerzhafte Vergangenheit wie auch ihre gegenwärtigen Wahrnehmungen in eine geheimnisvolle Sprache verwandelt. Diese ist aber ihre eigene. Mit ihr erschließt sie sich die Welt, versucht sie zu verstehen und erzählt sie von ihrem und dem Schmerz anderer Menschen.
Die Sprache bleibt im weiteren Verlauf des Romans sowohl in der Erinnerung wie in der Wahrnehmung geheimnisvoll, doch lässt Lauer die Erzählerin ihr Vokabular erweitern, neue Wörter und, gemeinsam mit anderen, neue Geschichten finden und sich auch der ‚anderen Sprache‘ der Großmutter annähern. Zunächst kann sie sich nur lautmalerisch an die Lieder der Kindheit erinnern, die ihre Großmutter gesungen hat. Am Ende des Buches kann sie diese orthographisch korrekt wahrnehmen und im Schriftbild wiedergeben.
Die Konsequenz, mit der Lauer an dieser schmerzbedingten, geheimnisvollen Wandlung der uns vertrauten Sprache festhält, macht ihren Roman so faszinierend. Unseren Augäpfelein ermöglicht sie ein neuen, ungetrübten Blick auf den Fluss der Sprachen und Zeiten, „wo das Wasser nicht wartet.“