Zwei Dinge drängen sich auf: Erstens: Gegenwartsforscher müssen die Gegenwart immer erst erfinden. Und zweitens: Die deutschsprachige Literatur kann erst durch den Blick von außen zum anfassbaren Objekt werden. Ein schon geschichtlicher Gegenwartsbegriff und die Außenperspektive (trotz der Beiträge deutscher AutorInnen) kennzeichnen den ersten Band des Jahrbuchs. Es wäre vorschnell, damit die Zukunft des Unternehmens abzustempeln und abzukanzeln, aber was immer man sich im Inland von einem literaturwissenschaftlichen Blick auf die deutschsprachige Gegenwart erwartete, an Unübersichtlichkeit, Disparatheit, Diskontinuität, Inkohärenz, verwandelt der internationale Blick in überraschende „Welthaltigkeit“ (Vorwort P. Lützeler) und ebenso erstaunlich geordnete Geschichtlichkeit. Es drängt sich der Verdacht auf, dass es nicht der individuelle Schwerpunkt – Günter Grass – dieses ersten Bands ist, der für das einförmige Bild maßgeblich ist, sondern dass das ganze Unternehmen in St. Louis letztlich darauf hinaus laufen könnte, das Medium Literatur dazu zu benützen, der Welt Deutschland zu erklären.
Das Jahrbuch ist in drei Teile gegliedert: I. Schwerpunkt, II. Tendenzen, III. Einzelinterpretationen (für die kommenden Bände ist auch ein vierter Teil mit Rezensionen geplant). Vorläufig heben sich die drei Teile nicht besonders von einander ab. Im Schwerpunkt kommt in vier Beiträgen der Nobelpreisträger Günter Grass zu Ehren, das repräsentativ Deutsche, das Kanonische und unter dem Stichwort „Mein Jahrhundert“ und in einem Vergleich mit Alexander Kluges „Chronik der Gefühle“ auch das Geschichtliche. Deutsche Geschichtsverarbeitung, Erinnerungsarbeit bildet aber auch den Fokus der unter Tendenzen eingeordneten Beiträge; und die Einzelinterpretationen unterscheiden sich in Länge und methodischen Ansätzen sowie in einer neuerlichen Zuwendung zu deutschen Geschichtsverarbeitungsstrategien kaum von dem unter Tendenzen Gebotenen.
Wer das Jahrbuch in einem Zug durchliest, ist am Ende voll mit Geschichten, mit Inhalten, mit Nacherzählungen der Fabeln, in die die deutsche Geschichte in der deutschen Literatur der letzten dreißig Jahre mutiert ist. Von den fünfzehn Beiträgen setzen sich zwei mit Lyrik (einer davon allerdings mit „Dresden in poetry“, den Bildern der „im Feuer versunkene[n] Stadt“, also wieder mit einem Geschichtstopos) und einer mit einem Theatertext auseinander, alle anderen sind der Erzählliteratur gewidmet. Die Mehrzahl der mit Inhaltswiedergaben durchsetzten Beiträge referiert den großen Diskurs der deutschen Zeitgeschichte, der um Nationalsozialismus und Holocaust, Spaltung und Wiedervereinigung, um Beharrung und gesellschaftlichen Wandel kreist, in Splittern, die sich zu einem Gesamtbild zusammenfügen mögen, das möglicherweise der ‚offiziellen‘ Außenperspektive von Deutschland, von deutscher Kultur und Literatur, entspricht. Vielleicht ist dies ohne Absicht geschehen, dann spricht das Bild eine Wahrheit über die deutsche Gegenwartsliteratur aus, nicht über die wirkliche – unfertige, unbekannte, die tausend Orte und Experimente – doch über die von manchen Medien und der Germanistik bereits kanonisierte.
Aus der Wiener Perspektive interessiert bei alledem, wieviel und was von der österreichischen Literatur zur Darstellung gelangt. Es ist überraschend wenig! Ein Beitrag setzt sich mit Peter Handkes Poetik der Erinnerung auseinander; ohne Bezugnahme auf seine Herkunft und das österreichische Exterieur in seinen Texten zeichnet die französische Germanistin Christine Morton Handkes Streben nach postmoderner klassizistischer Vollendung als einen „vermessenen Plan“ (S. 169) nach. Ein Aufsatz Hans-Peter Bayerdörfers zu „New York. New York“ von Marlene Streeruwitz gehört zur kleinen Minderheit der formanalytisch orientierten Beiträge in dem Band. Der Raum des Streeruwitz-Stücks, das Männer-WC der Stadtbahnhaltestelle Burggasse, ist freilich – dem Titel „New York. New York“ entsprechend – überall, ein „Weltraum“ (S. 296), damit kein österreichischer Schauplatz. Im Gegenwartsliteratur-Arrangement des Jahrbuches aus St. Louis ist von der alten DDR entschieden mehr die Rede als vom Literaturraum Österreich und den in ihm sich abzeichnenden gegenwärtigen Tendenzen. In seiner ersten Nummer präsentiert sich das Jahrbuch nicht als Gegenwartsbuch, sondern als Geschichtsbuch, nicht der deutschsprachigen, sondern prima vista der deutschen Literatur.
Also, SpezialistInnen aller Länder für die österreichische Literatur, spucken Sie in die Hände und lassen Sie mit Ihren Beiträgen an Stephan Schindler (jadshrbuch@artsci.vnfi
wustl.eduup) den Mississippi übergehen (Stylesheet: MLA Handbook oder nach der PMLA)!