Die Prosaabschnitte des Bandes fokussieren auf den Akt des Gehens in verschieden stark symbolisch hochgespannten Environnements, da wird durch ausgetrocknete Flussbette, neben Durchzugsstrassen, auf Treppen gegangen, und die Passivkonstruktion dieser Beschreibung bezeichnet bereits den wichtigsten formalen Unterschied zum Buch von Schrott: Selbst das Ich ist bei Seidlhofer in den Bereich des Zufälligen, nur nebenbei Angedeuteten getreten. Als Subjekt des Gehens tritt es zwar immer wieder auf, auch und gerade, weil wir es mit „normaler Prosa“ zu tun haben, doch Seidlhofer nimmt die selbstgesteckte Vorgabe ernster, als Schrott das bei „hotels“ getan hat: Hier interessiert wirklich nur der Akt des Gehens, er ist nicht Anlass zur Geschwätzigkeit, die dann in diese und jene und eine dritte Anekdote des Ich ausartet.
Man möchte vermuten, es fiele gerade einer Prosaarbeit schwer, solches zu bewerkstelligen, doch Seidlhofer gelingt es, den linearen Charakter erzählender Sprache für ihren Zweck zu kanalisieren, statt dem „Zwang zur Geschichte“ zu unterliegen.
Ein Buch, in dem nur noch, und von einer Könnerin vor uns ausgebreitet, gegangen wird. Das klingt wenig spannend. Doch als Gegenstand von „Gehen. Ein System“ schält sich nach und nach – und eben kraft der Beschränkung aufs genaue Schildern von Gangarten, Untergründen, Umgebungen, Gedankensplittern-im-Fluß-des-Gehrhythmus und Horizonten – noch ein Zweites heraus: Die Vorannahmen und Möglichkeiten erzählender Prosa selbst nämlich, die Aussagekraft ihrer „klassischen“ Folien und Draperien, und in weiterer Folge, wiederum hieraus hervortretend, das Bild des „Gehens“ als konstitutive Metapher.
Denk- und Empfindungsprozesse sind es, die des Bildes einer zurückgelegten Strecke im „realen Raum“ bedürfen, um sich sinnvoll bzw. rhythmisch, eben „als Erzählung“ darstellen zu lassen. „Gehen“ und „eine Strecke zurücklegen“, das zeigt sich hier als gewissermaßen urwüchsige, bereits dem Körper eingeschriebene Metapher: Als Ur-Metapher. Solcher Art sind die Subtexte in Seidlhofers Buch. Und sie bedürfen, wie angedeutet, nicht der Geschwätzigkeit, des Anekdotischen, um erschließbar zu werden. Sie breiten sich während des Lesefortschritts aus, in derselben Art, wie sich das Flussbett, die Vorstadt, das Amtsgebäude in den einzelnen Abschnitten um das gehende Subjekt ausbreiten: „Landschaftlich“, charakterisiert durch ein eigenwilliges changieren zwischen dem nur-gegenständlichen und dem metaphorischen, etwas-sagen-wollenden Moment der Darstellungen.
Daß innerhalb der einzelnen Abschnitte zuweilen befremdende Dinge stehen, beinahe ich-lose, schwebende Überlegungen, Reflexionen auf Raum, Körper und Bewegung, die ihrerseits sehr wohl „Anekdoten andeuten“, ändert nichts an obigem Befund. Stets bleibt der Fokus gewahrt, und es ist Seidlhofer nicht darum zu tun, dass wir uns mit diesen schillernden Einsprengseln allzu genau beschäftigen. Sie erfüllen eine Funktion im Bauplan des Bandes, auch in Hinblick auf die genaue literarische Schilderung des Gehens: Sie stehen für jene Splitter von Bewußtsein an uns, die üblicherweise „auf der Strasse bleiben“ müssen: Aspekte von Selbst- und Weltbild, die nur noch angesichts von Fortbewegung aufblitzen, nicht aber Teil des kontinuierlich und homogen erlebten Ego bilden.
Seidlhofer erzählt mit Gehen. Ein System viel, und auf hohem Niveau. Der Text verlangt Geduld vom Leser, doch er hat allen Grund dazu: Was hier gesagt wird, kann tatsächlich nur auf diese Weise gesagt und nur mit der entsprechenden Bereitschaft verstanden werden.