Von dem etwas unmodernen Frauenbildnis auf dem Cover sollte sich der/die Lyrikinteressierte genauso wenig irritieren lassen wie von dem nicht sehr attraktiven Titel des Bandes: die neuen Gedichte der Autorin und Journalistin Kirstin Breitenfellner sind lebendig und durchaus aktuell. Etwas bewusst Rückwärtsgewandtes ist ihnen aber stets immanent: sie sind durchgehend gereimt, und es sind Sonette. Gereimtes ist man heute in der deutschsprachigen Lyrik nicht mehr gewohnt. Wer reimt heute (noch)? Wer hat noch in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts (gelegentlich) gereimt? Durs Grünbein, Volker Braun, Robert Gernhardt, Peter Rühmkorf, Rainer und Sarah Kirsch, Gerhard Falkner, Robert Schindel, die frühe Anne Cotten … Den Reim zu verwenden ist heute etwas Besonderes, eine kleine Extravaganz eines Dichters, der ansonsten nicht reimt, etwas, das in der Fülle von nicht gereimten Gedichten auffällt. Reimen ist und bleibt eine hohe Kunst, die aber in der deutschsprachigen Lyrik schon lange nicht mehr als Voraussetzung des lyrischen Schaffens angesehen wird. Der Reim ist nur mehr etwas für gewisse Momente oder ausgewählte Texte.
Insofern wundert es nicht, wenn man sich bei der Lektüre von Breitenfellners Sonetten ganz spontan an Andreas Gryphius, Wilhelm Busch, oder aber Gottfried Benn, Christian Morgenstern und andere erinnert fühlt. Das hat auch mit der Lexik der Texte zu tun: viele Abstrakta, nicht wenige mit großer Bedeutung aufgeladene Begriffe sind, insbesondere im ersten Teil, in den übrigens in konsequenter Kleinschreibung gehaltenen Sonetten zu finden („freiheit“, „neid“, „gier“, „die welt“, „die wirklichkeit“, „kür“, „entweihung“) oder auch einige Ausdrücke der traditionellen Lyrik („augenrund“, „fürwahr“, „unbeschrankt“, „gebeut“, „nicht minder“). Dennoch sind die Texte, vom ersten bis zum letzten, in einer durch und durch zeitgenössischen Welt angesiedelt – was zweifelsohne den Reiz dieser ungewöhnlichen Gedichte ausmacht: „das netz“ hat hier genauso seinen Platz wie „shift /bit/byte“, „driften“ oder gar „beziehung ohne zwang“. Inhaltlich umkreisen die Gedichte des ersten Teils („unwelten“) die Sucht des modernen Menschen nach Bestätigung und Selbstverwirklichung; dies bringt die Autorin immer wieder mit viel Witz zum Ausdruck. Unter anderem wird etwa auch die Künstlichkeit der scheinbaren Realität eines Kinofilms kritisiert, oder die Bedingungen des menschlichen Körpers … Breitenfellner spielt hier mit Begriffen oder definiert sie erst, was – aufgrund der besagten formalen wie lexikalischen Besonderheiten – schnell einmal unzeitgemäß klingt, bis hin zur Ähnlichkeit mit barocken Epigrammen. Dazu trägt die etwas zu häufige Verwendung der Motive „Mensch“ und „Welt“ nicht wenig bei. Zugleich werden hier aber auch sehr aktuelle Problemfelder wie der Klimawandel, Kriege und Hungersnöte oder auch psychische Krisen bearbeitet; dies führt zu überraschenden, rätselhaften Bildern.
Während in dieser ersten Gruppe menschliche Individuen völlig fehlen – der Mensch ist hier lediglich eine philosophische Größe – stellt der zweite Teil, mit den titelgebenden „gemütsstörungen“ überschrieben, nun bestimmte Typen und Charaktere dar, abwechselnd in männlicher oder weiblicher Ausführung. Dieser an der Zahl der Gedichte umfangreichste Teil überzeugt auch am meisten, formal wie inhaltlich, und bereitet auch das meiste Lesevergnügen. Diese – durch längere Zeilen besonders melodischen – Personenporträts sind narrativ wie deskriptiv, sowohl Äußeres der Personen als auch ihre beruflichen oder privaten Lebensumstände werden meist heiter und mit Witz skizziert. Hier kann es ein eitler Mann sein, ein Schneider, eine Lesende, eine dem Liebesglück Verfallene, ein Gartenbesitzer, aber auch einmal eine „königin“, der oder die genauer unter die Lupe genommen werden. Flucht aus gewohnten Verhältnissen, intellektuelle Erfüllung, Selbstverletzung, kontrollierter Genuss, Trennung, Alleinsein oder das Bedürfnis danach – Breitenfellner gelingt es, jede dieser Situationen formvollendet und oft unterhaltsam in exakt vierzehn Zeilen in Szene zu setzen. Der bewusste Kontrast zwischen den hochaktuellen Themen und der klassischen Formstrenge läuft in diesem Teil des Bandes zu seiner Höchstform auf. Ob Kaufrausch und -sucht, Pornokonsum, Verführung, die pure Lebensbewältigung, Zweisamkeit, Opferrolle, das Dasein als Opernsänger oder Künstlerin … alles fügt sich hübsch in die oft heiteren, manchmal tragischen Reime.
Das kurze Kapitel „zueignungen“ besteht aus vier Gedichten, die vier großen Dichterinnen und Künstlerinnen der Gegenwart gewidmet sind und deren Leben und Schaffen sehr treffend darstellen – insbesondere jene über Herta Müller und Christine Lavant. Darauf folgt die als „conditio personae“ betitelte Textsammlung, die wieder mehr ins Allgemeine verweist. Eine gewisse Themenwiederholung aus dem ersten Teil ist hier bemerkbar: das Verhältnis des Ich zu seinen Mitmenschen, Ego-Befindlichkeiten, Paare und Liebesdreiecke, Ich und Kollektiv, die Welt und das Ich, Sucht nach Anerkennung … Die letzten beiden Gedichte der Sammlung sind unter dem Titel „das wort“ zusammengefasst und beinhalten – nun in reinster, ungereimter Prosa – Begriffserklärungen durch die Autorin, insbesondere in Bezug auf den merkwürdigen Titel des Bandes.
Gemütsstörungen ist ein origineller Versuch, ein strenges formales Korsett mit zeitgenössischen Themen und Fragestellungen aufzufüllen. Neben gelegentlichen Alliterationen, Enjambements und Wortspielereien sowie nicht wenigen verfremdeten Redewendungen bleibt selbstredend der durchgehaltene Reim und damit die Musikalität oberstes Merkmal dieser Gedichte, die, stets gleich lang, sich mal wie ein Charakter-Rätselraten, mal wie eine kleine Geschichte vom Scheitern oder Erfolg einer Person lesen, und dann wieder wie eine lyrische Begriffserklärung. Ungewöhnliches, formbewusstes Lyrikvergnügen!