Schon der Titel hat mich persönlich sehr angesprochen, ich musste sofort an eine meiner Lieblingsfolgen der Serie Akte X denken, in der Mulder und Scully nach einem vermeintlichen Seeungeheuer suchen. Eine Folge, die sich vor allem als Metapher für Sehnsucht bei mir eingebrannt hat, für die Hoffnung, dass etwas Totgeglaubtes noch lebt, dass Aussterben durch Wiederentdeckung rückgängig gemacht werden kann. In der Paläontologie spricht man in solchen Fällen vom Lazarus-Effekt: wenn Lebewesen von der Liste ausgestorbener Arten wieder entfernt werden.
Beim Wort „Gesang“ musste ich außerdem an Wale denken, an die wiederkehrenden Strophen, mit denen sie kommunizieren. Daran, dass Aufnahmen von Walgesängen mit den Voyager Golden Records ins All geschossen wurden. Mit einer ungefähren Lebensdauer von 500 Millionen Jahren erfüllen die Schallplatten neben einer möglichen ersten Kontaktaufnahme mit Außerirdischen noch einen zweiten Zweck: Sie sind der Beweis, dass es Wale gegeben hat, dass es uns gegeben hat.
Damit sind wir bei einem zentralen Thema von Marianne Jungmaiers Lyrikband, in dem die Beziehung zwischen Mensch und Natur verhandelt wird. Auch in Gesang eines womöglich ausgestorbenen Wesens geht es um die Frage: Was wollen wir, was können wir bewahren? Die Texte können, um gleich einen Gedichttitel zu zitieren, als Gespräch unter zwei Arten gelesen werden, jedes Gedicht als „Witterungslinie“ (S. 11). Bereits im ersten Gedicht Koordinatensystem geht es um „Rückkehrmöglichkeiten“ (S. 9), um die Frage, wie wir als Menschen mit der Natur umgehen, und ob eine Umkehr möglich ist. Auch an anderer Stelle wird dieser Gedanke aufgegriffen: „niemals wollte ich / an diesen Ort zurück / doch die Einsamkeit / ist meine Heilung“ (S. 16).
Es ist möglich, die Gedichte einzeln und für sich stehend zu lesen, aber in meinen Augen sind sie miteinander verwachsen, die Trennung, die durch die einzelnen Überschriften suggeriert wird, ist nur eine formale. Beim Lesen drängt sich das Bild eines Mischwaldes auf, ein Nebeneinander von Bildern und Eindrücken und ich bestimme, wohin mit meinem Blick, wo will ich genauer hinschauen, wo will ich im Buch verweilen. Es herrscht eine Gleichzeitigkeit verschiedener Jahreszeiten, Momente des Anfangs und Momente eines Endes fallen in derselben Sekunde zusammen: „ein fröhliches Blühen / sie verwerfen / was nicht hält“ (S. 15).
Wir finden uns beim Lesen in einem „Wald aus Licht“ (S. 16) wieder, aber die Wörter werfen Schatten, spenden Kühle, „hier nimmt der Mischwald / dem Horizont seine Schärfe“ (S. 16). Jungmaier inszeniert die Natur als Gegenmodell zum Leben außerhalb der Natur („eine Welt in der Welt“), zum Teil als Traumwelt, aus der das lyrische Ich herausgerissen wird: „bis man / (wieder und wieder) / meinen Namen / und mich damit / zurück / in die Wirklichkeit rief“ (S. 21). In allen Gedichten steckt eine tiefe Sehnsucht nach einem Bleiben, nach Überdauern: „hier könnte ich / wenn es das gäbe / ewig bleiben / und sein“ (S. 35).
Was die Texte außerdem miteinander verbindet, ist das Thema Vergänglichkeit: „die Sonne geht unter / (zu schnell)“ (S. 26). Wie ein Fluss verläuft die Andeutung eines Endes durch den Lyrikband, vielleicht eine letzte Chance, sich von Dingen zu verabschieden, die es so bald nicht mehr geben wird: „selbst die Erde wird nicht bleiben / was sie war“ (S. 54). Die Beziehung des Menschen zur Natur wird als Aneinanderreihung von Versuch und Irrtum beschrieben: „ich grabe / (und topfe und gieße) / trial and error / und verdunste / mit dem Tau / an den Morgen“ (S. 31).
Ich möchte hier noch gerne eine meiner Lieblingsstellen aus dem Gedicht ORBIS TERRARUM zitieren: „wenn das Meer sich verbirgt / an einem tieferen Punkt / und die Blüten der Algen / Teppiche / für Tiere und Menschen schaffen / was bleibt / ist genug zum Überleben“ (S. 54). Und das ist die Hoffnung, die Marianne Jungmaier ihren Texten eingeschrieben hat, dass wir Natur nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Boden verstehen, auf dem wir uns bewegen.
Ich empfehle, Gesang eines womöglich ausgestorbenen Wesens beim nächsten Waldspaziergang mitzunehmen, als Stück Natur in der Natur zu lesen, bis sich die Geräusche und Gesänge der Texte mit den Geräuschen und Gesängen des Waldes vermischen. Für mich sind die Gedichte eine Einladung, „dem Flug / der Sommerfalter“ (S. 59) zu folgen, vergessene Wege und Pfade noch einmal abzugehen, mit offenen Sinnen und auf der Suche nach einer neuen Sprache für die Dinge, die wir zu immerwährenden Selbstverständlichkeiten erklärt haben, ehe sie uns abhandenkommen.