#Sachbuch

Geschichte des Georg-Büchner-Preises

Judith S. Ulmer

// Rezension von Evelyne Polt-Heinzl

An der Universität Heidelberg gibt es seit 2002 einen Sonderforschungsbereich „Ritualdynamik“, was man sich darunter vorzustellen hat, zeigt Judith Ulmers Studie zum Georg-Büchner-Preis. Aus dem Blickwinkel der Ritualforschung und auf Basis von Pierre Bourdieus Analyse des literarischen Feldes als Teil des sozialen Gefüges, wird die Geschichte des Büchner-Preises lesbar als hochartifizieller, seqeuentierter Handlungskomplex; die typologische Folie bildet die Gabentauschlogik, die immer Altruismus und Eigennutz synthetisiert, reziproken Charakter hat, also eine Gegenleistung einfordert, und auf eine Gruppenmoral bezogen ist. Die Autorin entwickelt ihre Thesen sehr langsam und setzt beim Leser keinerlei Vorwissen voraus. Vorangestellt ist eine Performanceanalyse der Preisverleihung 2002 an Wolfgang Hilbig; sie ist im Prinzip wohl willkürlich aus den Jahresfolgen herausgegriffen, jede andere Verleihung, die ohne Störung des Rituals verlief, hätte – abgesehen von zeittypischen Inszenierungsadaptionen – ähnliches ergeben.

Die Schilderung der Handlungsabläufe an jenem Samstagnachmittag im Oktober 2002 im Darmstädter Stadttheater imitiert den Blick eines außerirdischen Beobachters, der das dezente Blumenarrangement auf der Bühne ebenso notiert wie Kleidung und Verhalten der Besucher vor, während und nach der Veranstaltung und den Ablauf der Auf- und Abtritte aller ins Bühnengeschehen einbezogenen Personen. Damit werden schon in der bloßen „Fallbeschreibung“ die unterschiedlichsten Merkmale sichtbar, etwa dass hier eine „sich separierende Elite“ (S. 7) ihre Exklusivität inszeniert. Das ist Teil der Geschichte der Literaturpreise allgemein, mit denen das Bürgertum um 1900 dem konservativ-feudalen Mäzenatsverständnis entgegentrat. Den Anfang machte hier im übrigen genau dreißig Jahre vor dem deutschen „Volksschillerpreis“ 1902 Österreich mit dem Grillparzer-Preis (1872) und dem Bauernfeld-Preis (1894).

Beim Büchner-Preis war die Sachlage von Anfang an besonders schwierig, die Divergenzen zwischen dem literarischen und politischen Feld sind mit dem Namensgeber Georg Büchner, Arzt, Dichter und Revolutionär, ebenso vorprogrammiert wie mit der Verschränkung von Träger- und Verleihungsinstanz zwischen Poltik (Hessischer Landtag) und Literatur (Jury bzw. ab 1951 die Akademie). Die spezifische Störanfälligkeit zeigte sich schon bei der Gründung: Dem Antrag im Jahr 1922, als Büchner vor allem politisch als Ahnherr der jungen Republik gelesen wurde, folgten 1923 im hessischen Landtag heftige Debatten um die Namensgebung; nationale Kreise wehrten sich massiv, unterlagen jedoch mit ihrem Gegenvorschlag „Hessischer Kunstpreis“. Die Vergabepraxis freilich folgte zunächst eher dieser Logik, der Preis ging, auch unter sozialen Erwägungen, an hessische, eigentlich primär Darmstäder Maler, Musiker oder Schriftsteller. 1933 wurde der Preis nicht mehr vergeben. Die Wiederaufnahme 1945 setzte einen bemerkenswerten Akzent: Der Preis ging an den Darmstädter Schriftsteller Hans Schiebelhuth, der 1933 als Laureat vorgesehen war und 1944 im Exil verstarb. Zwei Jahre später setzte sich in der Jury die Entscheidung für die gerade aus dem Exil in die „sowjetische Besatzungszone“ zurückgekehrte Anna Seghers gegen Elisabeth Langgässer durch; sie erhielt ihn dann 1950, als an der Preisverleihung erstmals die 1949 gegründete Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung beteiligt war, in deren Händen der Büchner-Preis seit 1951 liegt. Gleich die erste Vergabe durch die Akademie war eine politische Ansage in die Gegenrichtung: Geehrt wurde Gottfried Benn, auch wenn seine NS-Verwicklung in der offiziellen Preisprosa nicht unerwähnt blieb. Benn installierte mit seiner erstmals ausführlichen Dankesrede den neuen Ritualteil Büchnerpreisrede mit dem seither fast obligaten Bezug auf Büchner – von dessen politischen Implikationen Benn allerdings nichts wissen wollte – und der Entwicklung seines eigenen poetologischen Programms.

Der erste Preisträger, der die Büchnerpreisrede für eine direkte tagesaktuelle Stellungnahme nutzte, war 1957 Erich Kästner; er warnte vor der Verdrängungsmentatlität der Adenauer-Ära, drei Jahre vor Paul Celans berühmter Büchnerpreisrede. In den 1960er Jahren erfolgte eine zunehmende Politisierung der Textsorten rund um den Büchner-Preis: 1963 war der Laudator Hanns W. Eppelsheimer noch wesentlich deutlicher und drastischer als der geehrte und überraschend defensive Hans Magnus Enzensberger. Wesentlich politischer dann Ingeborg Bachmann 1964 und natürlich der damalige SPD-Wahlkämfper Günter Grass 1965, aber auch Wolfgang Hildesheimer 1966 und Heinrich Böll 1967. Seit 1966 rechnete die Akademie mit Störungen bei der Preisverleihung im Zuge der aufflammenden Studentenbewegung, sie waren bislang ausgeblieben. 1968 wurde das Ritual durch den Laureaten selbst gestört: Golo Mann verbat sich einen Laudator und reichte das Preisgeld an Flüchtlinge des niedergeschlagenen „Prager Frühlings“ weiter. Ausgerechnet bei der Verleihung 1969 an Helmut Heissenbüttel kam es dann – allerdings aus regionalpolitischen Gründen, es ging um den Protest gegen die Absetzung eines linken Lehrers – zu Störaktionen in Form einer friedlichen Besetzung der Bühne. Doch bereits ab 1970 wird, so analysiert die Autorin, schon in Gestik und Mimik der Akteure eine zunehmende Entpolitisierung deutlich, wohl auch eine Reaktion auf die Terroristengesetze. Das beginnt 1970 bei Thomas Bernhard, und selbst der junge Peter Handke stört 1973 mit keinem Wort und keiner Geste – sieht man vom Tragen einer Sonnenbrille ab – den Ablauf des Rituals.

Mit Christa Wolf (1980) und Heiner Müller (1985) wurden dann erstmals DDR-AutorInnen ausgezeichnet, was Ulmer als Zeichen der Bemühunen „um eine gesamtdeutsche Allianz im Widerstand gegen die atomare Aufrüstung“ (S. 262) interpretiert. 1987, zum 150. Todestag Georg Büchners, folgte die zweite nachhaltige Störung des Verleihungsrituals, diesmal indiziert von den Akteuren des Bühnengeschehens. Erich Fried beschrieb Büchner in seiner Rede, 10 Jahre nach den Selbstmorden von Stammheim, als potentielles Mitglied der Baader-Meinhof-Gruppe und kritisierte die Stadt Darmstadt wegen eines skandalösen Vorfalls bei einem Roma-Treffen. Damit hat Erich Fried die Gabentauschlogik verletzt, auch wenn der Eklat – abgesehen von einer spontanen Widerrede Hilde Domins – erst beim anschließenden Empfang mit einer Gegenrede des Darmstädter Oberbürgermeisters ausbrach.

Das Folgejahr – den Preis erhielt Albert Drach – brachte für die Akademie einen Eklat der anderen Art mit der Gründung eines „Alternativen Büchner-Preises“, dessen erster Preisträger 1989 Walter Jens wurde, der sich in der Jury der Akademie nicht durchgesetzt hatte. Nach einer Reihe von Querelen schlief das Konkurrenzunternehmen 1994 wieder ein. In den Büchnerpreisreden spielte 1991 (Wolf Biermann), 1992 (George Tabori) und 1993 (Peter Rühmkorff) der Mauerfall eine zentrale Rolle, gegen Ende der 1990er Jahre klangen immer stärker kulturpessimistische Töne an wie bei Durs Grünbein und Arnold Stadler (199) oder Wolfgang Hilbig (2002), doch die Analyse der jüngeren Verleihungsgeschichte gerät bei Ulmer eher kursorisch. Völlig fehlt etwa der „Fall“ Wilhelm Genazino, dem der Büchner-Preis tatsächlich den späten und längst verdienten Durchbruch brachte.

Judith Ulmers Analyse des Georg Büchner-Preises im Spannungsfeld von Gabentausch, Prestigeakkumulation, sozialer Magie und politischem Kalkül ist ein gelungener Versuch, ein Beispiel von sozialem Handeln im literarischen Feld neu zu lesen. Eine unkommentierte Spur zum Thema legt auch das Bild am Cover: Es zeigt Elfrieder Jelinek am Pult stehend bei ihrer Büchnerpreisrede – in der Analyse kommt Jelinek – außer in einigen Aufzählungen – zwar nicht vor, ihr Sozialkapital als Nobelpreisträgerin freilich und ihr politisches Provokationspotential lassen Elfriede Jelinek zur idealen Bildbeigabe gefrieren. Die Laudatio auf den diesjährigen Preisträger Josef Winkler hätte Wendelin Schmidt-Dengler halten sollen, dessen jäher Tod am 7. September 2008 in allen Bereichen des literarischen Lebens eine unauffüllbare Lücke gerissen hat.

Judith S. Ulmer Geschichte des Georg-Büchner-Preises
Soziologie eines Rituals.
Berlin, New York: Walter de Gruyter, 2006.
379 S.; geb.
ISBN 3110190699.

Rezension vom 22.09.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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