#Prosa

Gestern unterwegs

Peter Handke

// Rezension von Peter Landerl

Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990.

„So viele, die über Bücher schreiben (sich auslassen?), machen diese, gerade die wesentlichen, fürs erste unleserlich“ notierte Peter Handke in seinem eben bei Jung und Jung erschienenen Buch Gestern unterwegs. Hoffentlich verdirbt diese Rezension die Lust am Lesen nicht, es wäre schade, ist doch Handkes Journal, das Aufzeichnungen von November 1987 bis Juli 1990 enthält, phantastisch zu lesen, poetisch und inspirierend, eben ein „wesentliches“ Buch.

„Der gesündeste Appetit, den ich kenne, ist der nach Orten, allein schon beim Lesen von Namen auf der Landkarte.“ Handke ist in den drei Jahren seiner Journal-Aufzeichnungen ohne festen Wohnsitz ständig unterwegs. Im November 1987 macht er sich von Kärnten aus auf den Weg, reist nach Slowenien, weiter über Zadar nach Dubrovnik, dann nach Athen, wo er den Jahreswechsel verbringt. Es folgen Aufenthalte in Ägypten, Paris, Bremen, Oldenburg, Wilhelmshaven, München. Im Februar 1988 ist er in Belgien, dann fliegt er nach Japan, macht in Alaska Halt. Er besucht Portugal, reist nordwärts nach Galizien, über Südfrankreich nach Wien und Salzburg, Triest und ins Friaul, dann ist er in Paris und im Herbst 1988, nach einem Jahr auf Achse, wieder in Slowenien. Auch dort bleibt Handke nicht lange, er reist weiter nach Schottland und noch und immer weiter bis zum Juli 1990, als er schließlich in Paris sesshaft wird.

Immer unterwegs: Die Aufzählung der bereisten Orte und Länder mag den Eindruck vermitteln, Handke wäre wie gehetztes Tier unterwegs gewesen, doch ist davon in den Aufzeichnungen nichts zu spüren. Gestern unterwegs ist kein Reisebuch, sondern enthält Notizen, auf Reisen gemacht, dazu Beobachtungen, Kommentare, Gedanken, teils Vorarbeiten für seine Bücher „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ und „Der Bildverlust“. Kaum zu glauben, dass er im dreijährigen Unterwegssein die Zeit gefunden hat, das Theaterstück „Das Spiel vom Fragen“, den „Versuch über die Müdigkeit“, „Die Abwesenheit“ und den „Versuch über die Jukebox“ zu schreiben.

Schade, dass Thomas Bernhard eines seiner Bücher „Gehen“ getauft hat, man würde sich ein solches von Handke wünschen, dem Gehen eine Lebensart ist: Unterwegssein als Gegenwartslehre, als Gegenwartsammeln. „Gehen ist (soll, kann sein): Ich gehe wissen.“ Aber er ist nicht nur ein Geher, sondern auch ein Leser: Ilse Aichinger liest er etwa im Flugzeug über Grönland, Hölderlin während der Weihnachtstage in Athen, Wittgenstein in Schottland. Seine Kunst ist das Schauen: „Ich habe auf der Straße noch keinen Japaner erlebt, der freiwillig einen Bogen oder Umweg machte; alle bisher schnitten den Weg ab, auch den Entgegenkommenden.“

Oft kommt Religiöses zur Sprache, beschreibt Handke Bilder und Kirchen, erinnert er sich an Gottesdienste oder kommentiert die Bibelübersetzung. „Manchmal, in den großen Augenblicken, da die Formen und die Farben, vor allem die vielfältigen Grüns, mir entgegenkommen, -leuchten, denke ich: ‚Es gibt einen Gott!‘ – und schrecke zugleich zurück wie bei einer Gotteslästerung.“ Auch die Internatskindheit taucht immer wieder auf: „Oft, dass ich denke: ‚Im Internat bin ich vernichtet worden‘.“ Zu Österreich vermerkt er: „Der Staat, im Eifer, Staat zu sein, ist böse zu seinem Volk, wie kaum sonst wo?“

In Titograd notiert er: „Stellt die Perspektive sich ein, öffnet sich die Welt.“ Das ist vielleicht das Geheimnis von Handkes Schreiben: sich als Schreiber, sich der Perspektive der Anschauung nie sicher zu sein, sondern sie ständig zu suchen. In den eindrucksvollen Orts-, Natur- und Menschenbeschreibungen, den kurzen Gedankensplittern, dem Mit- und Zu-sich-Sprechen, dem Sich-gut-zu-Reden entfaltet sich peu à peu seine Poetik, aber auch seine Auffassung von der richtigen Form eines Schriftstellerlebens. „Mein einziges Talent ist seit jeher die Sehnsucht gewesen; zum Beispiel habe ich nie schreiben können, als Können.“

Man liebt an dem Buch diese Sehnsucht nach Orten, Menschen, Geschichten, nach Vögeln und Feldwegen, dieses Oszillieren zwischen dem Erfahren von Welt und dem Drang, die Erfahrung zu Papier zu bringen und damit dem Leser begreifbar zu machen. Gestern unterwegs ist ein Buch zum langsamen Lesen, man sollte sich Zeit nehmen zum Nach-denken, Nach-sinnen, zum Innehalten, um den Sätzen und Gedanken Raum und Zeit zu geben.
„Wie gestern am Finisterre von La Coruña ein alles durchdringendes Geräusch in dem Brandungstosen, stärker noch als das Hahnkrähen, das Klingen des Regens auf und in eine durchlöcherte Blechbüchse im Felsgras war, das helle Klingen außen – und das dunkle Trommeln, fast Dröhnen innen, wo der Regen durch die Löcher fiel.“

Man möchte eine um die andere Notiz zitieren, die Rezension nicht enden lassen. Nur noch ein Zitat, ein letztes, über die Stille: „Es ist schon wahr: nur Gehör sein; der wahre Mensch als DAS GEHÖR; und wahr ist auch, daß das Gehör ein Gefühl ist, ein durch und durch gesundes, das Gefühl, gesund oder – warum nicht? – heil zu sein, im Mitgehenkönnen mit den im Wind von einem Baum gewehten Kirschblüten, deren sachtes Auftreffen auf der Ackererde zu vernehmen – wie kann, wer die Stille nicht erfahren hat und sich auch nicht nach ihr sehnt, je ein Buch schreiben? (Die Sainte-Victoire im Blau).“

Peter Handke Gestern unterwegs
Journal.
Salzburg, Wien: Jung und Jung, 2005.
553 S.; brosch.
ISBN 3-902144-99-8.

Rezension vom 05.10.2005

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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