#Roman

Gier

Elfriede Jelinek

// Rezension von Klaus Kastberger

Im Zentrum des neuen Romanes von Elfriede Jelinek steht ein Mann namens Kurt Janisch. Er ist Gendarm und hat dazu beigetragen, daß die „vermischten Brutalitäten“ des Postens, der irgendwo zwischen Mariazell und Mürzzuschlag gelegen ist, bis hinein in die Kreisstadt bekannt wurden.

Heute hat der Provinzsheriff anderes im Sinn: In seiner schicken Uniform und in seinem schicken Auto fährt er durch die Gegend auf der Suche nach einem weiteren Haus und nach einer weiteren Frau, die er sich dann im Idealfall gleich mitsamt dem Haus „nehmen“ kann. „Anstatt den Verkehr zu regeln, übt er ihn aus“ – die Wahrheit ist in der obersteirischen Provinz so einfach wie ein Kalauer, auch wenn es ein schlechter ist. Die Erzählerin gesteht gerne zu, daß das jetzt einer ihrer müdesten Scherze war, es kümmert sie aber nicht weiter, wie überhaupt der Stil sie nicht bekümmert. Was sollte sich auch jemand um Stilfragen kümmern, der von Haß getrieben ist und dessen Haß in dieser Gegend autobiographisch verbürgt ist.

Häuser und Frauen sind in dem „Unterhaltungsroman“ Gier, mit dem sich niemand recht unterhalten kann, so sehr eins, daß der Erzählerin manchmal die Dinge durcheinander geraten: „Spreche ich jetzt noch vom Haus oder schon vom menschl. Körper?“ Der Mann bricht Türen und Fenster, dringt in Häuser und Körper ein und macht es sich darin so lange gemütlich, bis es fad wird. Die Herzen der Frauen bieten dem motorisierten Untersatz des Mannes, ohne die der Mensch in dieser Gegend wirklich aufgeschmissen ist, weil er einfach nicht vorankommt, eine Garage – groß genug, um in ihr auch noch ordentlich „reversieren“ zu können, bevor er wieder abfährt.

Kurt Janisch ist ein Experte in diesen Dingen. Das von ihm verwaltete Reich umfaßt drei Realitäten: Die eigene Ehefrau, die im gemeinsamen Eigenheim vor dem Fernseher sitzt, sich Familienserien ansieht und lange nichts mitbekommt. Eine Witwe namens Gerti, die in ihrem noch nicht ganz abbezahlten Haus auf den Liebhaber in Polizeiuniform wartet, während dieser, je öfter er kommt, immer mehr auf das Haus als auf sie selbst schaut, und ein 17-jähriges Mädel namens Gabi, das zwar kein Haus, aber in sich ungenutzte Räume anderer Qualität hat.

Mit Kurt, seiner Frau, Gabi und Gerti kann es nicht allzu lange gut gehen, für die enge Provinz tragen die vier einfach zu viel Raum in sich. Zudem überkommt Gerti zusehends Eifersucht, sodaß der Gendarm zu einer Lösung greift, die seinem Charakter entsprechend die brutalste aller möglichen ist: Am Ende liegt Gabi als stummes Paket am Grunde eines Baggersees. Der Zweitgeliebten des Gendarmen, Gerti, widerfährt, ohne das Zutun des Mannes, ein Gleiches: Sie schnappt sich das Auto und fährt dorthin, wo sie herkommt, nämlich nach Wien, wo es aber auch nicht besser ist.

Elfriede Jelinek läßt die Leiche der Selbstmörderin am Ende von Gier offen herumliegen und tut das in diesem Fall mit einem Ingeborg-Bachmann-Zitat. Am Ende des Romans „Malina“ hatte es geheißen: „Es war Mord“. Jelineks Buch endet mit der nüchternen Replik: „Es war ein Unfall“. Die zweite Leiche, das halbverweste Gabi-Bündel, holt die Autorin aus dem Wasser und seziert sie nach allen Regeln der literarischen Kunst. Dabei wird der ekelerregende Zustand der Toten, an dem kaum ein Detail zu schildern vergessen wird, gar nicht so sehr dem Täter zum Vorwurf gemacht, sondern dem Umfeld, das solche Täter hervorzubringen in der Lage ist. Mit der steirischen Wasserleiche ist letztlich der Zustand des ganzen Landes gemeint, uns allen hält die Autorin den toten Körper hin, als ob wir damit etwas zu tun hätten.

Mit ihrem Publikum geht Jelinek nicht gerade zimperlich um. Dies ist nichts Neues, betrifft aber in Gier nicht nur die Inhalte, sondern auch den Interpretationsspielraum, den das Buch der Lektüre läßt. Der Text Gier weiß von sich selbst genau, was er ist und was er nicht ist, und er sagt das in einer Deutlichkeit, die die Kritik zumindest teilweise ihrer Funktion enthebt. Interpretatorische Volten enden in solchen Fällen gerne mit einem Bauchfleck inmitten des Textes: „Das Land heißt Österreich, lernen Sie es ordentlich kennen“.

Direkte Hinweise auf die Politik des Landes sind in Gier spärlich gesetzt, ganz so als würden, um zu verstehen, die allerzartesten Hinweise genügen. Nur kurz ist von der neuen Sozialministerin die Rede und davon, daß der neue Justizminister nun schon wieder durch einen noch neueren ersetzt wurde. Der neue Kanzler hüpft an einer Stelle wie ein flach geworfener Kieselstein über die Oberfläche des Baggersees.

Die Beschreibung dieses Baggersees ist einer der fulminantesten Teile von „Gier; sie wirkt, als hätte Elfriede Jelinek Adalbert Stifter in schwarze Galle getaucht: Der See bietet sich als ein „Standgewässer“ dar, als ein Richtblock aus Wasser, der unter dem „von Gott permanent ausgeübten Oberflächendruck“ dunkel daliegt und alle Lebenssäfte der Umgebung mit seinen Ausdünstungen infiziert. Das Wasser ist Gelee und Galerte, Tonnen von Pflanzen sind ohne Aussicht auf Photosynthese in seiner Finsternis konserviert. Was man von oben in den See hineinschüttet, bleibt so lange an der Oberfläche, bis von oben etwas anderes nachkommt, zwischen den verschiedenen Tiefenschichten findet kein Austausch statt. Das Wasser hat sich mit Abwasser vollgesogen, bis es „umgefallen“ ist und seither hilflos wie eine nicht mehr heilende Wunde in der Landschaft liegt.

Jelineks Buch stochert in der Wunde herum und vereitelt an ihr jeglichen Ansatz zur Heilung. Die Beschreibung bietet der Wirklichkeit kein Pharmakon, es zeigt sich in ihr die Wirklichkeit ohne jeglichen Spielraum – in einem Zustand, der dem Leser den Atem nimmt und der Dichtung, ob sie nun Fiction oder Faction heißt, keine andere Chance bietet als jene, selbst despotisch zu sein. Das Humane ist in Gier als Ganzes und damit in radikaler Weise suspendiert: Der Mensch wird als ein Stück Fleisch betrachtet und als solches in eine „Wursthaut“ (Jelinek) gesteckt, an der man – ähnlich paradox wie auf den Grund eines tiefschwarzen Baggersees – bis in den Kern hinein sehen kann, auch wenn man sich eine solche Genauigkeit vielleicht gar nicht gewünscht hat.

Elfriede Jelinek Gier
Ein Unterhaltungsroman.
Reinbek: Rowohlt, 2000.
462 S.; geb.
ISBN 3-498-03334-4.

Rezension vom 25.09.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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