Mister Giordano, Chef einer Behindertenzeitschrift namens „Manhattan Wheeling Courier“, hat eine mysteriöse E-Mail bekommen. „In einem nordungarischen Nest namens Töröklak sitzt ein behinderter Mann in einem Heim. Er behauptet, in der Anstalt trügen sich fürchterliche Dinge zu.“ (S. 15) Der Ich-Erzähler, seit 20 Jahren im Rollstuhl und daher besonders „geeignet“ für das Thema, erhält den Auftrag für eine Reportage. Da er keinen Internet-Anschluß besitzt (und außerdem nicht gerne allein zu fahren scheint), lädt er einen befreundeten Dozenten der Wiener Universität mit auf die Fahrt nach Töröklak ein. Der Dozent, ein Soziologe, nimmt die Einladung dankend an. Er wird den Rollstuhlfahrer einfach als Studienobjekt verwenden: „Meine Feldstudie wird an intellektueller Schärfe und bestechender Authentizität ihresgleichen suchen“, tippt er in sein Notebook.
Ein Besuch in besagtem Behindertenheim erhärtet den Verdacht. Der Absender der E-Mail soll tags zuvor verstorben sein. Der Reporter macht sich auf die Suche nach weiteren Anhaltspunkten und stößt schließlich auf die dunklen Machenschaften eines Pornoringes, der Behinderte auf bestialische Art für seine Zwecke mißbraucht. Wenn einer der Auftraggeber es wünscht, werden die „Darsteller“ auch umgebracht – je nachdem, wieviel Geld dabei herausspringt. Doch kaum ist der Reporter den schockierende Tatsachen auf den Grund gegangen, sitzt er – gemeinsam mit seinem Kompagnion, dem Dozenten – schon selbst in der Falle der Verbrecher. Mit Verstand, Glück und erheblichem körperlichem Einsatz gelingt den beiden die Flucht; außerdem können sie den Sender der E-Mail befreien. Die Story ist perfekt. Der Reporter erwartet sich einen Aufschrei in den Medien, eine ungeheure Resonanz. Doch er täuscht sich. Die Reportage bleibt ohne Wirkung, dem Reporter wird sogar mit einer Klage seitens der Republik Ungarn gedroht. „Anstatt einen Skandal aufgedeckt zu haben, stand ich als Lügner und Spinner da […].“ (S. 9) Selbst das Aufschreiben der ganzen Geschichte hat nichts gebracht: „Keine Last ist von mir abgefallen. Ich verspüre keine Erleichterung.“ (S. 11)
Erwin Riess hat sich in seinem Roman an ein absolutes Tabu-Thema unserer Gesellschaft gewagt. Wer sich jedoch einen bitteren Bericht erwartet, liegt ganz falsch. Denn zum einen gelingt es Riess, den „Fall“ mit erzählerischem Elan und Witz anzugehen, zum anderen bekommt der Leser außer einem Krimi eine böse Satire über den Umgang mit Behinderten serviert. Die Aufzeichnungen des Soziologen zeugen davon, daß Behinderte meist nicht nur als Mitmenschen, sondern zugleich als Studienobjekte oder Adressaten unserer Mitleidsbekundungen wahrgenommen werden. Die erste, wissenschaftliche Variante lautet dann so: „Warum spricht G. [der Rollstuhlfahrer] manchmal von zugängigen Gebäuden und manchmal von zugänglichen? […] So wie die Menschen des Altertums die Natur vergötzten, weil sie ihr hilflos ausgeliefert waren, vergötzen Rollstuhlfahrer die Bausubstanz, weil sie mit ihr nicht zu Rande kommen. Vielleicht spricht G. deshalb von zugänglichen Gebäuden, als seien die Baulichkeiten freundliche und hilfsbereite Menschen? […] Vorläufiger Arbeitstitel: ‚Rollstuhlalltag und Fruchtbarkeitszauber. Über den Zusammenhang von Naturborniertheit und Technikvergötzung‘.“ (S. 46f.) Soviel zu den Mutmaßungen über Rollstuhlfahrer. Ähnlich amüsant wird es, wenn G. selbst über seine Erfahrungen und seine (im wahrsten Sinne) Sicht der Dinge plaudert. Über den Vorteil, als Rollstuhlfahrer in Brusthöhe der Mitmenschen zu sitzen, meint er: „Die Brüste der Frauen haben mich ins Zentrum der Menschheit zurückgeführt, aus dem ich mich durch meine Behinderung schon verdrängt wähnte. […] Meine Weltoffenheit ist eine Funktion der weiblichen Brust.“ (S. 114f.)
Ein gelungenes Spiel mit der „political correctness“, das so gar nicht in das herkömmliche Schema vom „armen Behinderten“ paßt. Und auch im sprachlichen Umgang gibt es noch einiges zu lernen. „Wenn hilfsbereite Menschen wissen wollen, ob ich über einen Randstein hinunter kann, sagen sie: ‚Geht’s?‘ […] ‚Es geht nicht‘, sage ich dann oft, ’sonst würde es nicht sitzen.‘ Noch nie hat jemand über diesen Satz gelacht. Aber ich bin nicht gewillt, von ihm abzugehen.“