Bekanntlich gab es nur ein paar Schriftstellerkollegen, die Musil mit solchem Nachdruck neben sich gelten ließ. Was soll man also heute – nach vielen Jahrzehnten, die die neu edierten Werke Bleis in ihrer ganzen Machart mühelos überstanden haben – über einen Autor anderes schreiben, als daß es immer noch ein rechter Lesegenuß ist, seinen gleichermaßen spirituellen wie anschaulich formulierten Lebensbeschreibungen zu folgen. Franz Blei, der streitbare „Erzkritiker“, wie er von den Zeitgenossen tituliert worden ist, hat mit den schon in den zwanziger Jahren berühmt-berüchtigten Frauenporträts, von denen der vorliegende Band eine Auswahl bietet, wahrliche Kostbarkeiten im Bereich der Kunstprosa hinterlassen. Da gibt es keinen Unterschied zwischen abstraktem oder spielerisch-bohemehaftem Gedankenexperiment und einer intellektuellen Erkenntnis, die auf exakter Auswertung historischer Quellen beruht, keinen mehr zwischen intuitiver Gefühlsspekulation und einer phänomenalen Sicherheit des Urteils. Jenseits von Kategorien wie Irrtum und Wahrheit ergänzen einander Argumente und Metaphern, rhetorische Fragen und Zitate, Ironie und Bekenntnis auf stilistisch wohl einzigartige Weise, sodaß Blei in den scheinbar persönlich-subjektiven Gegebenheiten bestimmter Geschicke zu allen Zeiten noch etwas Allgemeingültiges zu erfassen vermag. Er spannt den geistigen Bogen von Messalina, der dritten Gemahlin des römischen Kaisers Claudius, über die große Theodora, Heloise, Mechthild von Magdeburg, Elisabeth von England, Christine von Schweden, Ninon de Lenclos, Madame Dubarry, Marie Antoinette, Madame du Deffand, Mrs. Cook (die Ehefrau des Entdeckungsreisenden), Lady Hamilton, Angelika Kaufmann, Königin Luise von Preußen, Caroline Schelling, Dorothea Schlegel, Pauline Wiesel, Dorothea, Herzogin von Kurland und Sachsen, Mathilde Heine, George Sand, Isodora Duncan, Mata Hari, Marie Laurencin, Renée Sintenis, Annette Kolb bis zu Greta Garbo, der Filmdiva.
Vor allem dann, wenn Blei sich dem Unscheinbaren zuwendet, den Ausprägungsformen jener „Schattenexistenz“, die historisch markanten Persönlichkeiten letztlich genauso anhaftet wie anonym bleibenden Menschen, entwickelt er eine besondere Hellsichtigkeit für die komplexen Zusammenhänge der beiden Geschlechter, der Lebensart, der Politik und der Kunst. Manche, die unserem Blick so sehr entzogen sind, daß es keinerlei Bildnisse von ihnen gibt (während im übrigen den Texten entsprechende Porträt-Illustrationen beigegeben sind), erfahren auf diese Weise eine Würdigung, die sie zu Repräsentanten des Außerordentlichen macht. Um noch einmal Robert Musil zu Wort kommen zu lassen: „So ist dieser scheinbar zerebrale und äußerlich-dialektisch Vieles verbindende Schriftsteller [Franz Blei] im Grunde seines Wesens irrational und instinktiv in dem Sinne, den Nietzsche die ‚Witterung‘ der Geister nennt, und wo er diesen Grund berührt, ist er einer der seltenen apodiktischen Menschen, die aussagen dürfen, ohne zu begründen, weil sie das Richtige fühlen.“