#Roman

Glühen

Theodora Bauer

// Rezension von Sabine Dengscherz

Was ist echt? Natürlich? Authentisch? Auf der Suche nach dem wahren, wirklichen, ursprünglichen Erleben fährt eine junge Frau auf Urlaub in die Berge. Beim Wandern begegnet sie einem Mann, der ihr Begehren weckt und erfüllt. Und doch erfährt sie dabei vor allem eines: die Welt in ihrem Kopf.

Elisabeth Maria, Lisa-Maria oder kurz: Lima ist Wissenschaftlerin, spezialisiert auf Literatur der Jahrhundertwende, insbesondere Horváth und Schnitzler. An Schnitzler arbeitet sie sich ab, daran, was er verstanden hat und was auch nicht: seine Perspektive ist eine männliche, und zum Teil auch typisch für seine Zeit. Lima wiederum betrachtet sich und andere durch einen vielschichtigen Filter aus Literatur, ihre Welt besteht aus Worten, Phrasen, Sätzen, Texten, Symbolen und Motiven. Aber nun will sie all diese Texte hinter sich lassen, wenigstens für zwei Wochen. Bewusst nimmt sie kein einziges Buch mit auf ihren Urlaub. Jetzt wird einmal nicht gelesen. Jetzt wird gelebt.

Poetisch und subtil schickt Theodora Bauer in ihrem jüngsten Roman Glühen eine junge Frau auf einen Selbstfindungstrip, der eigentlich gar keiner werden sollte. Nicht nach innen will Lima wandern, Yoga kann sie nicht ausstehen, bewusstes Einatmen macht sie aggressiv. Es geht ihr vielmehr darum, etwas von der Welt zu erfahren, etwas unverstellt Natürliches. Etwas, das nicht ästhetisiert ist, nicht intellektualisiert, nicht bearbeitet. Die Universität will sie hinter sich lassen in dieser Zeit, ihre Stelle ist (vermutlich) ohnehin prekär, bei ihrer letzten Publikation fiel ihr Name jedenfalls schlicht unter et al.; sie verschwindet mit ihrer Arbeit hinter anderen, rangiert unter ferner liefen – so wie viele andere Frauen.

Fürs Erste verschwindet Lima noch ein Stück weiter, hinaus aus der Stadt, hinein in den Urlaub. Eine „Sommerfrische wie damals“ (S.10) soll es werden, am Land, in Hügeln und Bergen und ein gewisses Damals versprüht schon die entlegene Pension: diese Art Zimmer kennt Lima aus ihrer Kindheit, selbst die braun-beigen Fliesen mit Gänseblümchen im Bad scheinen seltsam vertraut. Ein Gruß aus den Achtzigern.

Ein anderes Damals, die Jahrhundertwende, steckt in Fassaden und Straßenzügen, nicht nur in Wien. Manches davon hat vielleicht auch Schnitzler noch gesehen. Die Literatur ist zwar nicht im Koffer mitgereist, aber doch im Denken, im Wissen, Lima kommt ihr nicht ganz aus, genauso wenig wie den Nachrichten, die die alte Wirtin lautstark im Fernsehen hört: Zu lange kein Regen, Waldbrandgefahr. Beim Wandern hört Lima es knistern, die trockenen Blätter im Wind, und womöglich liegt auch sonst noch etwas in der Luft. Bei sich nennt sie die Wirtin Charona, als wäre sie das weibliche Pendant zu Charon, dem Fährmann der griechischen Mythologie, der auf den symbolischen Obolus wartet, um die Seelen über den Styx ins Totenreich zu geleiten. Den Obolus hat Lima aber noch nicht entrichtet, noch bleibt sie im Diesseits.

Und da knistert es zunächst einmal erotisch: Oben auf der Alm sieht Lima einem Mann beim Mähen zu, betrachtet ihn dabei, wie er die Sense schwingt. Er ist mit einem Pferdewagen gekommen, wie aus einer anderen Zeit. Die Sonne brennt ihm auf die Haut, auf die Unterarme, unter denen sich deutlich Adern abzeichnen. Lima schaut ihn gerne an. Prägt sich sein Bild ein und nimmt es mit ins Tal, in ihr Denken, ihre Träume. Dafür muss sie erst eigene Worte finden, „das Schauen übersetzen“ (S. 62), die Literatur hat hier nicht viel zu bieten, noch nicht. Männer werden kaum so beschrieben, dass sie anziehen. Nicht so, wie Frauen beschrieben werden. Und warum schreibt niemand über Unterarme?

Weibliches Begehren ist eine literaturhistorische Leerstelle, stellt Lima fest, und an den Rändern lauern die Klischees: „es gab nur Heilige oder Huren, nach wie vor, dazwischen fehlte schon seit Jahrhunderten die Luft“ (S. 63). Explizit begibt Theodora Bauer sich mit ihrem Roman nun in dieses Dazwischen, besetzt die Leerstelle weiblichen Begehrens wie ein wissenschaftlicher Text eine Forschungslücke, dehnt sie aus mit Poesie, schafft Luft für das, was fehlt, Luft für das, was Lima will. Die Luft ist aber heiß und brandgefährlich.

Der Senner heißt Michael wie der Engel. Aber Michael weiß nichts von Engeln. Sein biblischer Namensgeber, der Erzengel Michael ist dafür zuständig, gegen Rebellion zu kämpfen. Ist Lima eine Rebellin? Wird sie das unverstellt Natürliche finden, wenn sie den Mann mit der Sense betrachtet, wenn sie mit ihm schläft? Ist dies das Stück Gegenwart, das sie gesucht hat? Entgleitet es ihr wieder, wenn er eines Tages nicht mehr auftaucht auf dem Berg? Und ist das alles überhaupt echt?

In den Nächten träumt Lima von ihren Wanderungen, vom Wald. Immer wieder führt sie ein kleiner weißer Pudel an der Nase herum. Ein kleiner weißer Bruder von Mephisto? Goethes Faust lässt grüßen, und Lima verscheucht den Hund. Sie will die Dinge selber in der Hand behalten, selbst im Traum, ja, darum geht es auch. Eines Tages begegnet ihr der Pudel dann im Frühstücksraum. Das Tier ist kein Er, es ist eine Sie. Und die Wirtin schüttelt den Kopf über ihren Gast aus der Stadt.

Theodora Bauers Roman ist eine ebenso intellektuelle wie sinnliche Auseinandersetzung mit einem weiblichen Begehren, das selbstbewusst bleiben und sich nicht abhängig machen will. Es ist aber auch eine Geschichte des Scheiterns: auf der Suche nach dem Echten gehen Träume und Wirklichkeit, Vorstellungen und Erleben zusehends ineinander auf und sind immer weniger zu unterscheiden. Das Leben spielt sich im Kopf ab, gefiltert durch Sinne, Wahrnehmungen – und Texte.

Intertextualität ist in diesem Buch voller Symbole allgegenwärtig: Das Ich ist ein Produkt des Erlebten, Gelesenen, Gedachten. Nichts steht für sich allein, alles ist vernetzt und verflochten mit anderen Menschen, dem, was sie gesagt haben, dem, was sie denken. Wir alle flechten ein klein wenig mit an diesen Netzen, wie und soweit und solange wir das eben können.

Eine harte Konstante, sehr echt und real, ist am Ende der Tod.
Und des Pudels Kern – ist das, was wir uns darunter vorstellen.

 

Sabine Dengscherz, geb. 1973 in OÖ, Autorin, Wissenschaftlerin, Universitätslektorin. Studium der Germanistik, Kommunikationswissenschaft und Hungarologie, Venia für Transkulturelle Kommunikation und Mehrsprachigkeit. Forscht zu Schreibprozessen und Kulturbegriffen. Mitglied der GAV. Lebt in Wien und Dénesfa. https://www.dengscherz.at/

Theodora Bauer Glühen
Roman.
Berlin: Rowohlt, 2024.
124 Seiten, Hardcover, mit Lesebändchen.
ISBN 978-3-7371-0202-5

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autorin sowie einer Leseprobe

Homepage von Theodora Bauer

Rezension vom 20.06.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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