Begonnen hat alles in der Leopoldstadt. Dort wuchs Glückselig in einem wohlhabenden Elternhaus auf. Der Vater, ein talentierter Antiquitätenhändler und erfolgreicher Geschäftsmann, die Mutter, der „gute Geist“ des Hauses und in Erziehungsfragen ebenso jüdisch-liberal wie ihr Mann. Der jüngste Sohn Leo kam nach der Volksschule ins Chajes-Realgymnasium, eine fortschrittliche zionistische Mittelschule. Aber angeborener Widerstand gegen stumpfsinniges Auswendiglernen beendet bald seine schulische Laufbahn: Einzig in Zeichnen hat er einen „Einser“, sonst nur „Nicht genügend“. Glückselig landet in der Architekturklasse der Kunstgewerbeschule (die heutige Hochschule für angewandte Kunst), bekommt bald seine ersten Aufträge als Innenausstatter von Bars und Geschäften. Auch in Liebesangelegenheiten läuft alles gut. Kurzum: „Wir waren jung, und es war schön.“ (S. 80)
1938 war alles zu Ende. „Ich kannte meine Studienkollegen seit fast fünf Jahren und dachte, sie gut zu kennen. Einer tauchte schon am ersten Tag [nach dem Anschluß] in SA-Uniform auf. […] Andere ignorierten mich einfach.“
(S. 132) Eilig werden Fluchtpläne geschmiedet. Nur knapp entgeht Glückselig der Einlieferung ins KZ, den Demütigungen und Schikanen der Nazis ist er jedoch hilflos ausgeliefert. Besonders dieser Teil des Lebensberichtes beeindruckt durch seine Eindringlichkeit und Beobachtungsgabe. Glückselig beschreibt den Zermürbungsmechanismus, den die neuen Machthaber so perfekt beherrscht haben. Eindrücke aus seiner Haft: „Nun wurde wieder geprügelt. Nach ungefähr zwei Stunden gab es eine Überraschung. Wir setzten uns, die Tür ging auf und herein kam […] ein Würstelmann! ‚Wenn ihr Geld habt, könnt ihr euch jetzt etwas zum Essen kaufen‘, brüllte der SS-Mann.“ (S. 157)
Die Familie Glückselig hatte wirklich Glück. Zunächst gelang allen Kindern die Flucht in die USA, endlich auch den Eltern. Bei der Einreise mußten diese ihr Gepäck beim Zoll vorzeigen: „Mein Vater öffnete zuvorkommend den Schiffskoffer. Und was war in dem riesigen Ding? Dreißig einsame Holzkleiderbügel! Wir brüllten vor Lachen […].“ (S. 175) Schon bald gelingt der Aufbau einer bescheidenen, aber sicheren Existenz in New York. Der Überfall auf Pearl Harbour am 7. Dezember 1941 zog schließlich Amerika in den Krieg. Und der Pazifist Leo Glückselig entschloß sich, als Soldat gegen Hitler zu kämpfen. „Ich wollte nicht länger hilflos sein […]. Mir war der Gedanke unerträglich, eine Karriere in New York zu beginnen, während rund um mich die Welt einstürzte.“ (S. 185ff.) Als MP – Militärpolizist – nimmt er an der Invasion in der Normandie und der Besetzung Deutschlands teil. Seine Gefühle: Haß, Wut, Trauer, auch Rachegelüste, schließlich „immer mehr Ekel“. Der Bericht wird zum Kaleidoskop spannungsgeladener, berückender, mitunter fast komischer Szenen. „Einmal wurde ich von einer Gruppe [deutscher Kriegsgefangener] angesprochen, ob ich ihnen behilflich sein könnte, einen Weihnachtsbaum zu kaufen. Sie hatten untereinander Geld dafür gesammelt. […] Das war ein Gejohle, als ich, im Jeep stehend, mit einem schönen, großen Christbaum zurückkam! Als sie sich bei mir bedankten, konnte ich mir eine kleine Anmerkung nicht verkneifen: ‚Ich wünsche euch schöne Weihnachten. Und vergeßt nicht, daß ein Jude euch diesen Christbaum gebracht hat.‘ Und sie klatschten! Sie applaudierten mir!“
(S. 230)
Glückselig kehrte schließlich nach New York zurück, gemeinsam mit der großen Jugendliebe, seiner späteren Frau Ita. Nun war auch die Zeit gekommen für seine Karriere als Werbegrafiker und Illustrator, u. a. für die „New York Times“. Die Emigranten sind untereinander in Kontakt geblieben, der Oskar-Maria-Graf-Stammtisch bot als „heimatliche Oase“ dazu beste Gelegenheit. „Heimat ist Österreich. Aber das Zuhause ist Amerika.“ (S. 310) – so sieht es Leo Glückselig heute. Sein Bruder, der Schriftsteller Fritz Bergammer hat es in einem Gedicht so formuliert: „‚Das schönste an der amerikanischen Flagge / sind ihre rot-weiß-roten Streifen‘, / sagte ein österreichischer Einwanderer / nach siebenunddreißig Jahren / und meinte es nicht wegwerfend – / Amerika wegwerfend – sondern im Gegenteil / dankbar, daß dieser große Kontinent / langsam die Farbe seiner Heimat annahm.“ (S. 311)
Leo Glückseligs Lebensgeschichte ist so spannend wie lehrreich, daß die für „oral history“ wohl typischen Schwachstellen nicht weiter stören. Das Geheimnis seiner Erzählergabe erklärt der Zeichner am besten selbst: „Ich war schon immer ein guter Beobachter, und als Künstler trainiert man sein Gedächtnis, bis es zu einem Skizzenblock der Erinnerung wird.“ (S. 9)