#Prosa

Gräser im Wind

Christian Steinbacher

// Rezension von Walter Wagner

Christian Steinbacher, der seit Ende der 1980er-Jahre mehr als zwanzig Bücher vorgelegt hat, darunter vor allem Lyrik, aber auch Prosa, Hörstücke und Essays, gilt auf dem Feld der konzeptionellen bzw. experimentellen Dichtung hierzulande als eine der imposantesten Erscheinungen. Vielseitig begabt, poetologisch versiert und intellektuell verankert, schafft er in sicherer Entfernung vom ästhetischen Mainstream ein Œuvre, das irritiert, vor den Kopf stößt und mit gnadenlos hohem Anspruch an den Leser herantritt. Wer bequeme Unterhaltung sucht, möge also mit der TV-Fernbedienung Vorlieb nehmen. Den Neugierigen und immer noch Literaturhungrigen sei hingegen empfohlen, sich mit seiner jüngsten Publikation anzulegen.

Was ist nun der Gegenstand dieser Neuerscheinung, deren Titel zunächst an Whitmans Klassiker Leaves of Grass gemahnt? Tatsächlich referiert Steinbacher in seinem Band auf Claude Simons Roman Das Gras aus dem Jahr 1958, der 1970 von Erika und Elmar Tophoven und 2005 von Eva Moldenhauer übertragen wurde. Auf der Grundlage dieser beiden Versionen unternimmt der Autor einen literarisch motivierten Übersetzungsvergleich, der als Pro-forma-Struktur des Textes fungiert, in Wahrheit aber als Vorwand dient, um sich dem eigentlichen Vorhaben in einem Gewimmel von Mikroerzählungen beständig zu entziehen.

Das in unzähligen Anläufen versuchte und von plötzlich auftauchenden Textbausteinen und gewissermaßen „en passant“ aufgegriffenen Erzählsträngen immer wieder vereitelte Vorhaben füllt Seite um Seite dieser lustvoll ausufernden Prosa. Man müsste über den Orientierungssinn eines kanadischen Fallenstellers verfügen, um sich in diesem Buch zurechtzufinden, und stellt schon an der ersten Weggabelung fest, dass man sich verlaufen hat. Da treibt einer sein schalkhaftes Spiel mit dem Leser, berichtet von persischen Städten, kulinarischen Erleuchtungen, schwenkt lässig über zu ethnologischen Trivia, weiß über Geschichte, Kunst, Literatur, Geografie, Zoologie – kurz, sämtliche Wissensgebiete Bescheid und verstreut willkürlich aufgetischte Informationshappen unter den Rezipienten, die nach kurzer Zeit nicht mehr wissen, wo ihnen der Kopf steht. Kursivdruck, Parenthesen, Fußnoten, Durchstreichungen, montierte und demontierte Passagen samt eingestreuten Fotografien von Elisa Andessner lassen diesen Abgleich, in dem alles mit allem verbunden ist, enzyklopädisch zum Welt-Buch anschwellen. Die Tugenden realistischer Erzählkunst weit hinter sich lassend, lotet Steinbacher die Möglichkeiten eines Schreibens aus, das Anklänge an den Nouveau Roman aufweist, aber diesen in seiner Radikalität noch übertrifft.

Dass der Autor seine Gräser im Wind in einen intertextuellen geschickt inszenierten Verweisungszusammenhang mit Claude Simon stellt, der zu den Wortführern dieser einst avantgardistischen Richtung gehörte, ist daher kein Zufall. Wo weder Figuren noch Handlung existieren und auch kein ‚Sinn‘ mehr gestiftet werden muss, verwandelt sich das erzählerische Reden in ein Gerede, das nicht auf Mitteilung abzielt, sondern die konsequente Arbeit an der Sprache im Blick hat. Vom Joch der Interpretation, des Verstehen-Müssens befreit, kann sich der Leser entspannt einer besonderen Art des Vergnügens hingeben, die darin besteht, sich auf des Verfassers gewitzte Sprachkunst – als höchste Verbalkunst – absichtslos und doch ästhetisch rezeptiv einzulassen.

Steinbacher selbst braucht dank seiner assoziativen, auf Beliebigkeit setzenden Poetik keine Geschichten mehr zu erfinden, sondern begnügt sich damit, Gelesenes, Gehörtes, Erinnertes gleichsam wie „objets trouvés“ aufzulesen, um lyrisch-skurrile Effekte zu erzeugen: „Frech zeigt sich unter den Spannen der Poesie nicht nur der sich viel zu selten von Laub oder Boden abhebende Dachs, sondern auch der nicht mal so üble Verschnitt eines üblichen Dach-Stuhls“ usw. usf. Man muss Steinbachers kalauernde Eskapaden vom Verdacht der Tiefgründigkeit freisprechen, um ihre magische Wirkung zu erfahren. Gelingt uns das, dann werden wir uns bereitwillig von „Gotha“ nach „Goslar“, vom „Golan“ auf den „Sankt Gotthard“ und von „Gondwana“ direkt ins literarische Nirwana befördern lassen. Wer mitspielt und mitliest, wird, seines Lohns gewiss, helle Freude empfinden und von dieser Lektüre entzückt sein. Und weil Steinbacher Nahes und Fernes, Kluges und Absurdes so artig zu verknüpfen weiß, gewährt er auch Einblick in die auktoriale Vergangenheit und Gegenwart, ohne Simon und seine Übersetzer zu kurz kommen zu lassen. Diese aus der Feder einer oberösterreichischen Scheherazade stammenden Gräser im Wind sind mehr als bloß Bericht und Palaver, sondern ein sprachgewaltiges, Genregrenzen sprengendes Husarenstück, das genialischer nicht sein könnte. Es wird seine Leser fesseln, wenn es sie gefunden hat, und bis in ihre Tagträume hinein verfolgen.

Christian Steinbacher Gräser im Wind. Ein Abgleich.
Wien: Czernin Verlag, 2017.
312 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-7076-0617-1.

Homepage des Autors

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 04.10.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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