#Lyrik

GRATE

.aufzeichnensysteme

// Rezension von Marcus Neuert

„dach ohne haus / darunter wasser // so wie jetzt / zu unreif // in der schublade / einer ruine“

Ist das ein Gedicht? Es sieht ganz so aus. Flattersatz-Kurzzeilen, regelmäßiger zweizeilger Bau, kryptische Botschaft mit surrealen Anklängen. Ein verschollener Text aus den 1960er Jahren? Weit gefehlt.
GRATE, in betont schlichter, aber wertiger fadengehefteter Klappenbroschur soeben bei Ritter erschienen, scheint ein Buch der Rätsel und Mißverständnisse zu sein.

Hanne Römer, geboren 1967 im hessischen Bad Vilbel und seit der Jahrtausendwende in Wien ansässig, hat Druckgraphik, Kunstgeschichte und Medienwissenschaften studiert; sie verschwindet mit dem gewählten pseudoauktorialen Begriff „.aufzeichnensysteme“ vollkommen hinter ihrem Werk. Ihrem Werk? Ihrem Werk? Aber Geduld, darauf wird noch einzugehen sein. Die Nennung ihres Namens ist für das vorliegende Buch nur insofern von Bedeutung, als sich mit ihm ein beruflicher Werdegang verbindet, der ihrer Leserschaft einen Fingerzeig gibt, wie eine erste Annäherung an das Textgefüge vielleicht möglich wäre.

Denn obwohl GRATE bis auf eine einzige abstrakt-monochrome Abbildung ganz am Ende des Buches vollkommen ohne Bebilderung auskommt, ist schon beim ersten Durchblättern ein strenger Bau der Wortgefüge auszumachen, der durchaus auch graphischen Charakter hat, eine Visualität bereits jenseits der semiotischen Kombinationen, die sich konsequent an den ersten, 2017 erschienenen Band „IM GRÜNEN“ anschließt und, wie der Klappentext verrät, in der Folge zur Trilogie ausgebaut werden soll.

„.aufzeichnensysteme“ ist insofern ein Neugier weckender Neologismus, da er entweder ein „n“ zuviel zu haben scheint oder aber im Sinne der postulierten „transmedialen Autorenschaft an der Schnittstelle literarischer, visueller und radiophoner Kunst“ eigentlich auch „Aufzeichnungssysteme“ heißen könnte. Es geht aber wohl weniger um die nähere Bestimmung des Substantivs „System“, sondern um die unmittelbare Tätigkeit des Aufzeichnens. Der vorangestellte Punkt könnte eine Kennung für ein Dateiformat oder eine Domain bedeuten. Die gedankliche Verbindung zu Digitalmedien wird jedenfalls sofort angetriggert.

Das wiederum impliziert zweierlei. Erstens eine moderne Form der écriture automatique, die sich aber zweitens gerade nicht durch klassischerweise genutzte Schreibgeräte wie Füller, Kuli oder Stift manifestiert, sondern eigentlich für eine multimediale Verbreitung über das world wide web gedacht ist. Wieso aber dann ein Buch? Auch hierauf wird noch Bezug zu nehmen sein.

Andersherum wird ein Schuh daraus: die Verfahrensweise geht im Gegenteil den Weg des Eindampfens. Ursprung ist „scharfkantig geschnittener Satzbruch aus eigenen Prosatexten und Notizbüchern“, d.h. die manuelle Aufzeichnung fand offenbar bereits an dieser Stelle statt. Für das Buch wird das Aufgezeichnete aus dem Zusammenhang gerissen, neu kontextualisiert, und das in einer durchaus streng zu nennenden Form. Wir haben es hier also mit Verdichtungen zu tun, die wahlweise als Textfragmente oder als Gedichte lesbar sind, auch wenn dieser Begriff im programmatisch wegweisenden Klappentext offenbar mit Vorbedacht vermieden wird. Und es wird klar, dass es sich trotz der Namensvermeidung der Künstlerin um ihre ureigene Schöpfung handelt.

Eine Schöpfung freilich, die durch den Prozess des Filterns, des De- und Rekontextualisierens von ihrer Autorin abrückt, durch die starke formale Bearbeitung aber auch wieder ein Stück weit zu ihr zurückkehrt – als ihr Werk im wahrsten Wortsinn, womit auf die entsprechende Frage vom Anfang Bezug genommen wäre.

Die vier „Formationen“, wie die Kapitelüberschriften genannt werden, „DAMPF“, „STARRE“, „LICHT“ und „TON“, allesamt als einzige Worte neben dem Buchtitel selbst groß geschrieben, unterteilen den Band in gleichlange Abschnitte. Den größten Teil des Textkorpus machen Zweizeiler aus wenigen Worten aus, in die mit einer gewissen Regelmäßigkeit wiederum kursiv gesetzte, allein stehende Zeilen aus einem einzigen Wort eingebettet sind. Das strenge Schema von drei freirhythmischen Distichen, gefolgt von dreimal zehn Distichen mit jeweiligem kursiven Ein-Wort-Vers an unterschiedlicher Stelle, abgeschlossen wiederum von drei Distichen zieht sich regelmäßig durch das ganze Buch. Hinzu kommen wiederum kursiv gesetzte Einzeiler, welche die beschriebenen Textbauten umarmen und die zunächst wie die Titel der zweizeiligen Abschnitte wirken, aber auch als eigenständige Textfolge gelesen werden können und obendrein einen Hinweis auf die dem Gesamttext vorangestellte Regieanweisung „für zwei personen“ geben. Liest man die Einzeiler nämlich in direkter Folge, so ergibt sich mitunter fast so etwas wie ein surreal gefärbtes Gespräch, so etwa im ersten Kapitel:

es geht also weiter […] / für wasser und strom […] / das ist nicht gesagt […] / strebst du einen sitzplatz an? […] / die antwort ist ja“

Das Fragezeichen im Zitat ist übrigens das einzige Satzzeichen überhaupt im ganzen Buch. Natürlich kann man auch normal umblättern und semantisch an den folgenden 3×2-Zeilen-Text anschließen:

es geht also weiter // akkurat und / nichtssagend // einfach / wie gefordert // tagelang // vor dem spiegel“

Das „es geht also weiter“ kann auch als inhaltlicher Aufhänger für die Fortsetzung des 2017 mit „IM GRÜNEN“ begonnenen .aufzeichensysteme-Projektes gelesen werden. Der Text ist in vielerlei Hinsicht wahrnehmbar: formal, assoziativ, visuell und nicht zuletzt, es handelt sich ja um das gute alte Trägermedium Buch, sogar haptisch: die „GRATE“ lassen sich dank Tiefprägetechnik des Umschlages auch erfühlen.

Nichts ist willkürlich an diesen Wortkompositionen, auch wenn nicht unbedingt immer ein sofort nachvollziehbarer inhaltlicher Zusammenhang aufscheint, wenn offensichtlich gar mitunter innere Sprünge vorhanden sind. Laut und Rhythmus haben ihren wohlgesetzten Platz:

„[…] förmlich kilometerweit / in allen geschöpfen // nach festem / ordnungsprinzip // hinter einem bademantel […]“

Das Fehlen von Interpunktion erlaubt eine weitgehende semantische Bezugnahme von allem, was sonst irgendwie formal zusammenpasst. Es macht etwa ein abwechselndes Sprechen der distichischen Abschnitte möglich. Der ganze Text eignet sich als eine Art Libretto für jenes von der Konzeptkünstlerin angestrebte transmediale Moment, könnte zumindest in der Theorie grafisch, filmisch, performativ oder gar plastisch umgesetzt und auf digitalem Weg verbreitet werden. Deshalb das Buch. Mit irgendwas müssen die .aufzeichnensysteme ja schließlich anfangen.

Bleibt also das Warten auf den dritten Band, der der zu beobachtenden Symmetrie des Gesamtkonzeptes folgend dann wohl 2021 fällig wäre. Alles andere wäre zumindest überraschend.

.aufzeichnensysteme GRATE
Lyrik.
Klagenfurt, Graz: Ritter, 2019.
152 S.; brosch.
ISBN 978-3-85415-594-2.

Rezension vom 01.10.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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