Daniela Strigl und der Claassen Verlag gönnten Marlen Haushofer anno 2000 noch 400 Seiten. Der Münchner Germanist Sven Hanuschek benötigte fünf Jahre später für sein Buch über Elias Canetti bereits 800 Seiten (für eine Folgebiografie über Arno Schmidt gestattete ihm der Carl Hanser Verlag im Jahr 2022, 992 Seiten). Aber was war all dies schon verglichen mit Jens Malte Fischers Lebensbeschreibung über Karl Kraus, die sich über 1.104 Seiten zog!
Elsbeth Dangel-Pelloquin, die über Arthur Schnitzler promoviert wurde, mehr als 35 Jahre an der Universität Basel lehrte, ab 2003 als Ordinaria für Literaturwissenschaft, und seit 1989 als stellvertretende Vorsitzende der Hugo von Hofmannsthal-Gesellschaft amtiert, und ihr Fach- und Ortskollege, der Germanist Alexander Honold, der seit 2015 als Mitherausgeber von Hofmannsthal. Jahrbuch zur europäischen Moderne fungiert und Spezialist für Gottfried Keller, Robert Musil und Peter Handke ist, ziehen mit 896 eng bedruckten Seiten nach.
Eine Biographie über Hugo von Hofmannsthal – endlich! Überfällig, ist zu ergänzen. Die 150. Wiederkehr des Geburtstags am 1. Februar 2024 ist der würdige, äußerliche Jubiläumsanlass. Hinzu kommt – eine Art Rekord in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft nach 1945 –, dass seit 2022 die Hofmannsthal-Edition Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe geschlossen und vollständig vorliegt. Da erschien der allerletzte Tomus dieses Projekts, Band Nummer 4 der Werkgruppe Reden und Aufsätze, das 1967 begonnen wurde und von dem 1975 der erste Band gedruckt vorlag. Insgesamt beläuft sich diese germanistisch gesehen drei- bis viergenerationelle Edition auf 40 Bände in 42 Teilbänden und summiert sich zu insgesamt 28.500 Druckseiten. Enthalten darin und kommentiert: rund 1.100 Werke, Pläne und Entwürfe. Was ein anderer Rekord ist! Denn welcher Autor der deutschsprachigen Moderne kam schon auf eine derart gigantische Werkproduktion.
Tatsächlich ist Hugo von Hofmannsthal ein Literatur-Phänomen, das sich bis heute einer eindeutigen Zuschreibung und phlegmatischer Rubrizierung chamäleonartig entzieht. Das war ihm selbst von früh auf bewusst. Er trieb das teils auf die Spitze, auch darüber hinaus, was die vielen, ja zahllosen Fragmente, abgebrochenen Projekte, Ideen-Aufzeichnungen und Notizsammlungen dokumentieren. Dem breiten Publikum ist er kaum mehr geläufig, bis auf die Zuschreibung Salzburger Festspiele und Jedermann. Die einen rechnen ihn dem Fin de Siècle zu als hoch genialer frühestbegabter Lyriker – und ignorieren dabei weitgehend alles Spätere. Einer andren, weniger literaturaffinen Öffentlichkeit begegnet er hie und da noch als Librettist von Opern Richard Strauss‘.
Dabei ausgeblendet wird, dass Hofmannsthal einer der sprachgewaltigsten Sprachkritiker der deutschsprachigen Moderne war, dazu ein hochbelesener Philologe, Editor von hohen Graden, im letzten Lebensjahrzehnt bis zu seinem Tod 1929 mit 55 Jahren auch ein vielgefragter Redner. Aber auch Autor von Märchen, Erzählungen, kaum bekannten virtuosen Reiseberichten und heute gänzlich vergessenen Pantomimen wie auch von Theaterkomödien sowie des monumentalen und monumental düsteren, späten, seit vielen Jahren von Dramaturgen komplett unbeachteten Dramas Der Turm (wohl das letzte Mal hochkarätig besetzt und ebenso intelligent inszeniert anno 1992 von Thomas Langhoff am Deutschen Theater in Berlin). Und dazu Autor einer atemberaubenden Fülle an Korrespondenzen, die mehrere Stunden eines jeden Hofmannthal-Tages in Anspruch nahmen, Briefwechsel mit Hunderten, ja Aberhunderten von Freunden und Bekannten aus einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Arbeits- und Denkwelten, von Dichterkollegen über den Hochadel, Diplomaten und Hochschulprofessoren, zuzüglich Austausches mit Kollaborateuren, Theaterhäusern und Verlagen.
Der Literaturwissenschaftler Richard Alewyn nannte Hugo von Hofmannsthals Korrespondenz einmal ein einziges zusammenhängendes „gefrorenes Gespräch, die kostbarsten Zeugnisse eines Gesprächs, das alle, die noch seiner gewürdigt worden sind, als das zauberischste rühmen, das ihnen je beschieden gewesen ist“. 2005 zeichnete der Wiener Kulturjournalist Ulrich Weinzierl Hofmannsthal in seinen, so der Untertitel des bei Zsolnay damals erschienenen Buches, Skizzen zu seinem Bild ein teils überscharfes bis bitter spöttisches Bild des Dichters. Da war von plattem Freudianismus die Rede und von blindwütigen Verehrerinnen und Verehrern, anderseits nannte der FAZ– und Die Welt-Feuilletonist und Historikerinnensohn den schwierigen, zerrissenen, auch maliziösen und depressiv veranlagten Hofmannsthal a-historisch und recht unfreundlich einen „durch winzige Kleinigkeiten verstörbaren Hysteriker“.
Von solchen Verdikten halten sich Dangel-Pelloquin und Honold fern, zum Glück. Bei ihnen ersteht ein tatsächlich umfassendes, wenn auch hie und da ganz sachte charakterlich nachsichtiges Bild Hofmannsthals. Auf Jahre hinweg dürfte man nun sich diesem Autor via dieses Bandes nähern. Sie erzählen chronologisch, abwechselnd Leben – zu Papier gebracht von Dangel-Pelloquin – und Werk schildernd. Letzteres übernahm Honold, Ordinarius für Germanistik an der Universität zu Basel.
Nicht immer ist die Lektüre ein Vergnügen, ist sie doch nicht durchgehend publikumszugewandt oder elegant. In nicht wenigen Partien der mit „Lektüren“ überschriebenen Kapitel, gewidmet der Interpretation der so diversen Opera, vom Gedicht über Prosa zu Dramen und Adaptionen bis zu Libretti und Filmskripten, findet man sich überlangen, kataraktartigen Sätzen ausgesetzt, die von wissenschaftlichen Fachtermini und wenig verständlichen Begriffen teils überfließen und in ihrer abstrakten Komplexität als Collage aus Vorlesung und arkanen Fachpublikationen anmuten. Was bedauerlich ist, denn mehr als solid und gründlich wird das eminente Hofmannsthalsche Œuvre präsentiert und ausgedeutet, auf den letzten einhundert Seiten dann verwunderlicherweise mit auffälligen Doppelungen, wobei kurioserweise die umständliche akademische Ausdeutung zuerst erfolgt und viele Seiten später dann, um lebensweltliche und biografische Details ergänzt, luzid erhellt wird.
Deutlich zu konstatieren ist nach und mit diesem schwergewichtigen Band: Hofmannsthal war vielleicht der erste, er war wohl tatsächlich der erste moderne Autor Österreichs (ein Hofmannsthalsches mal dit benutzend: Arthur Schnitzler, Freund wie Rivale, war der erste moderne Autor Wiens). Er war hochbelesener Philologe und staunenswert hinreißender Lyriker, ein Wortkünstler – man findet in seinen Komödien Bonmots sonder Zahl und in seinen Briefen, manchmal schnell hingetuscht, gar noch mehr – allerhöchsten Niveaus und er war ein extrem nervöser Geist, der eben nicht mit Schlagworten wie „Konservative Revolution“ oder „Jung Wien“ oder „Opernzuarbeit“ erledigend erfasst werden kann. Und: Er, der europäische Intellektuelle, bediente sich, fast schon ein Postmoderner, leichthändig virtuos der Techniken Adaption, Palimpsest, Überschreibung älterer und alter Literatur, ob beim Jedermann oder bei anderen Arbeiten, schuf jedoch autonom und viril Eigenständiges.
Viel zu weit gespannt waren die Interessen dieses selbstredend mehrsprachigen Europäers, der Tradition und Gegenwart, auch die Gegenwart der Nachkriegsjahre 1918 ff., in ihrer Zersplitterung synthetisieren wollte, dabei nie auf Eleganz vergaß noch auf Gedankentiefe, der nicht in einen Mammutroman emigrierte wie Robert Musil, noch ein patrizisch soigniertes Abbild seiner selbst der Öffentlichkeit präsentierte wie Thomas Mann. Vielmehr oszillierte Hofmannsthal zwischen Synthese und Fragment, zwischen Vollendung und immer hektischerem graziösem Aufbruch ins Neue.
Erstaunlicherweise ist nach 896 recht und oft beeindruckenden Seiten zu sagen: Hugo von Hofmannsthal, von viel zu vielen einer abgelegten, eher staubig-modrigen Subsektion der Literaturhistorie zugeordnet, ist moderner als diese beiden, als Musil und Mann, seine Zeitgenossen, in seiner Vielgespanntheit, in seiner Zeit-Aufgeschlossenheit, in seiner hypermodernen Überzeitlichkeit.
Alexander Kluy ist Autor, Kritiker, Herausgeber, Literaturvermittler. Zahllose Veröffentlichungen in österreichischen, deutschen und Schweizer Zeitungen und Zeitschriften. Editionen, zuletzt Felix Dörmann – Jazz (edition atelier, 2023) und Egon Erwin Kisch – In Hollywood wächst kein Gras (Limbus Verlag, 2023). Zahlreiche Buchveröffentlichungen, zuletzt in der edition Atelier die Bände Der Regenschirm. Eine Kulturgeschichte (2023) und Giraffen. Eine Kulturgeschichte (2022) sowie im Corso Verlag Vom Klang der Donau (2022).