#Sachbuch

Grenzfrevel

Hans-Albrecht Koch, Gabriella Rovagnati, Bernd H. Oppermann (Hg.)

// Rezension von Ulrike Diethardt; Evelyne Polt-Heinzl

Grenzfrevel ist der vielversprechende Titel des Sammelbandes mit den Beiträgen des internationalen Kolloquiums „Rechtskultur und literarische Kultur“, abgehalten im November 1997 an der Universität Bremen. Als terminus technicus für einen juridisch ahndbaren Sachverhalt verweist der Titel auf die unter Laien verbreitete Tendenz, Recht im wesentlichen mit Strafrecht zu identifizieren und die viel breiteren Bereiche des Privat-, Staats- und Verwaltungsrechtes eher auszublenden. Der Titel deutet aber auch die „vergnügliche Frivolität“ (S. 7) an, die jedem Verrücken von Grenzen und jedem Blick über fremde Zäune eignet und die im wissenschaftlichen Diskurs heute gerne mit dem Topos Interdisziplinarität auftritt. Die Aufsätze des sorgfältig gestalteten Bandes demonstrieren die Fruchtbarkeit interdisplinärer Herangehensweisen in bester und buntester Manier.

Da sich Literatur immer für das Verhältnis von Individuum / Gruppe und Gesellschaft, für Fragen nach Schuld und Verrat interessiert, sind die Reibungspunkte an den Gesetzen und Usancen, die sich eine Gesellschaft gibt, besonders ergiebige Kristallisationspunkte der Interpretation. Zudem war die Jurisprudenz über Jahrhunderte hindurch beliebtes Brotstudium vieler Schriftsteller und in einigen „Dichterjuristen“ – wie etwa E. T. A. Hoffmann oder als jüngeres Beispiel Albert Drach – hat sich die inspirierende Verbindung beider Professionen zu klassischen Beispielfällen verdichtet.

Es ist ein breiter literarhistorischer Bogen, den die Beiträge mit dem Blick auf Recht und Rechtssprechung abstecken. Er beginnt beim rechtskundigen Blick auf die Literatur der römischen Antike (Michael von Albrecht) und bringt unter anderem Einzeluntersuchungen zu Klopstocks „Gelehrtenrepublik“ (Hans-Wolf Jäger), zu Gottfried Kellers Unrechtsbegriff (Gert Sautermeister), zu Gerhart Hauptmann (Wulf Segebrecht), Stefan Zweig (Gabriella Rovagnati), Karl Kraus (Sigurd Paul Scheichl), Hugo von Hofmannsthal (Mariana Làzarescu) und Hermann Broch (Giulio Schiavoni). Der Fall Maurizius wird ebenso wieder aufgerollt (Dierk Rodewald) wie die Debatte um Klaus Manns Gustav-Gründgens-Roman „Mephisto“ (Harm Peter Westermann) als Paradefall für die „Abwehr einer Persönlichkeitsverletzung durch eine literarische Äußerung“ (S.168) oder der geheimnisvolle Doppelselbstmord in Thomas Bernhards früher Erzählung „An der Baumgrenze“ (Horst Kreye).

Eine Reihe von Beiträgen liefern darüber hinaus Überblicke zu speziellen Fragestellungen und Themenkomplexen. Ulrich Baron etwa untersucht die Juristenbilder der Literatur von Geoffrey Chaucer über Christoph Martin Wieland und Heinrich von Kleist bis zu Theodor Fonatane; Dietrich von Engelhardt vergleicht Sittlichkeitsdelikte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Wissenschaft und Literatur und der abschließende Beitrag von Michael Klein listet in Längs- und Querschnitten eine erdrückende Fülle an Titeln und Problemkonstellationen auf zur Frage „Der einzelne und die Staatsverwaltung als Gegenstand der Literatur“. Diese umfangreichen Aufzählungen bieten eine überzeugend vorstrukturierte Übersicht für Ansatzpunkte weiterer Forschungsprojekte im Zeichen des Grenzfrevels.

Hans-Albrecht Koch, Gabriella Rovagnati, Bernd H. Oppermann (Hg.) Grenzfrevel
Rechtskultur und literarische Kultur.
Bonn: Bouvier, 1998 (Abhandlungen zur Kunst- , Musik- und Literaturwissenschaft. 401).
277 S.; geb.; m. Abb.
ISBN 3-416-02779-5.

Rezension vom 10.09.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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