Palimpsest hin oder her, diese Problematik verliert ihr Interesse, sobald wir in den Text eintauchen, der von einer Vergangenheit in einem Südtiroler Dorf erzählt, wo winters eisiger Wind durch die Ritzen des Plumpsklos pfeift und unsittliche Gedanken den Sünder in Seelenpein stürzen. Schon früh lernt der Erzähler, was es heißt, mit zu viel Fantasie begabt zu sein. Oft überfallen ihn Ängste, die ihn auffräßen, wäre da nicht die Großmutter, deren Schutz und Zuneigung er sich anheim stellt. Alle sagen nämlich, dass viel Denken krank mache, gleichwohl kann der Knabe nicht aufhören, das Surren im Kopf abzustellen. Unablässig bedrängt ihn nämlich die Frage, ob „die gewohnte talwelt die allein richtige welt sei in der welt“ oder vielleicht doch eine andere existiere, die über Großmutters beruhigendes Universum hinausgeht.
Es ist die Geschichte einer ländlichen Kindheit, die in Großmuttermorgenland nachgezeichnet wird und die von Anfang an keinen Zweifel darüber aufkommen lässt, wo das Paradies nicht liegt. Denn wer an die Idylle zwischen steilen Hängen und schroffen Gipfeln glaubt, muss Städter oder unverbesserlicher Romantiker sein.
Oberhollenzer weiß um die Schrecken und Finsternis der Äcker und Fluren, wo Alkohol, Suizid und Sauschlachten ihren angestammten Platz haben. Sentimentalität und Tiefsinn sind in diesem Kosmos verpönt und führen konsequent ins gesellschaftliche Abseits. Insofern ist der Weg des Protagonisten vorgezeichnet. Er vermag seine „heidenangst“ zwar nicht zu bändigen, entdeckt dafür aber das Opium der Literatur, das freilich seine Außenseiterrolle besiegelt.
Dem trinkenden Vater bleibt er körperlich unterlegen, der Mutter fremd. Allein die Großmutter scheint die Persönlichkeit des Knaben zu erahnen und schenkt ihm eines Tages den Neuen Großen Weltatlas. Nun ist es gewiss: Hinter den Bergen gibt es Länder und Kontinente, die so wirklich sind wie das von ihm imaginierte „mondirien“.
Der breiten Darstellung des Heranwachsens folgt quasi wie im Nachspann der geraffte Rückblick auf die Ehe mit Magdalena, die Geburt der Tochter und den seelischen Zusammenbruch des Helden.
Oberhollenzers virtuose Prosa reiht sich mühelos in den Kanon der großen Kindheitserinnerungen ein; sie macht uns zudem mit einem Stück Zeitgeschichte behutsam vertraut. Von den verhassten Welschen ist die Rede, von Gagarins Ausflug ins All und dem aufkommenden Tourismus, der mit Bussen und Autos das Tal überrollt, um das bäuerliche Genrebild in eine „prosperierende einöde“ zu verwandeln. „[…] Durchs offene fenster strömte die stille herein“, notiert der Autor wie beiläufig und zeigt einmal mehr, was große Kunst vermag. Es scheint, als ob er alle erlittenen Verluste in dieses eine Bild hätte bannen wollen, in dem sich auch unsere ein wenig spiegeln …