Der LexikonRoman passt: Denn nicht geht es bei der Vorstellung von „Grundbüchern“ darum, einen Leitfaden durch die österreichische Literatur von sechs Jahrzehnten zu bieten, nicht um einen Kanon (wenngleich das Buch zwangsläufig zur Kanonisierung der besprochenen Werke beitragen wird), vielmehr um so etwas wie Bojen zur Orientierung in einem schon kaum mehr überschaubaren Meer von literarischen Publikationen aus über sechs Jahrzehnten. Begonnen hat die genannte Veranstaltungsreihe 2001 mit der Vorstellung von Ilse Aichingers Roman Die größere Hoffnung, zweifellos einem Schlüsselwerk der Zeit unmittelbar nach 1945, seit 2002 folgten jährlich jeweils vier weitere Bücher, unsystematisch, wie gesagt, in „wilder Anordnung“, aber es geht ja eben nicht um ein literaturgeschichtliches Narrativ. So wie in Okopenkos LexikonRoman bieten die Grundbücher unterschiedliche Lektürewege an. Die Parallelisierung soll nicht überstrapaziert werden, aber schon der Zusatz zum Titel des Kompendiums („Erste Lieferung“) deutet auf Unvollständigkeit und Offenheit des Unternehmens. Längst sind daher auch (noch) nicht annähernd alle wichtigen Bücher der österreichischen Literatur seit 1945 genannt (Betonung auf noch, denn wir warten ja auf weitere Lieferungen). Dass Aichingers Roman aufscheint, wird man ebenso als selbstverständlich hinnehmen wie Paul Celans Mohn und Gedächtnis, Thomas Bernhards Frost oder Franz Innerhofers Schöne Tage, dass Albert Drach und Heimito von Doderer, die Autoren der Wiener Gruppe, Friederike Mayröcker, Ingeborg Bachmann, Peter Handke, Elfriede Jelinek oder Gerhard Roth berücksichtigt sind, wird auch kaum Widerspruch hervorrufen (es sei denn, man würde andere Bücher dieser Autoren und Autorinnen präferieren). Interessanter sind die nicht unbedingt Erwarteten: Fred Wander, Albert Paris Gütersloh, Ernst Hinterberger, Reinhard Priessnitz, Marie-Thérèse Kerschbaumer, Christine Lavant, Franz Kain, Marianne Fritz, Brigitte Schwaiger, Klaus Hoffer, Elfriede Gerstl und auch Okopenko. Nicht erwartet, nicht wegen mangelnder literarischer Qualität, sondern weil sie nicht im Mittelpunkt des Literaturbetriebs stehen (standen), ein kleines oder kaum ein Lesepublikum haben und auch von der Literaturwissenschaft beziehungsweise Literaturgeschichtsschreibung eher stiefmütterlich behandelt werden. Aber schon die Auflistung zeigt: die Veranstalter drücken sich um die Schwierigen (Gütersloh oder Hoffer zum Beispiel) so wenig wie um die aus unterschiedlichen Gründen Marginalisierten (Hinterberger, Schwaiger).
Im Detail kann auf die einzelnen Beiträge hier nicht eingegangen werden. Generell lässt sich sagen, dass den meisten (auch den literaturwissenschaftlichen) das Anliegen eingeschrieben ist, das jeweilige Werk einem interessierten Lesepublikum (nicht unbedingt Literaturwissenschaftlern) nahe zu bringen, in erster Linie Lust und Interesse am Lesen zu wecken. Das impliziert natürlich Verzicht auf einlässliche Auseinandersetzung mit dem aktuellen Forschungsstand und auf Präsentation neuer Forschungsergebnisse sowie auf hypertrophe Verwendung von Wissenschaftsjargon (am Rande positiv vermerkt sei: der Schock, dass schon der erste Beitrag den mittlerweile bereits vom Alltagsjournalismus strapazierten Modebegriff „Dekonstruktion“ im Titel führt, legt sich sofort: Reichensperger ist einer der wenigen, der weiß, wovon er spricht, wenn er von „D.“ spricht, und der das am Werk zu zeigen vermag).
Die Texte über die Grundbücher habe ich gewissenhaft einen nach dem anderen gelesen (das geht hier im Gegensatz zum LexikonRoman, von dem Konstanze Fliedl gesteht, dass ihr lineare Lektüre trotz größtem Bemühen naturgemäß nicht gelungen ist) – aber es machte wenig Sinn, die einzelnen Beiträge einen nach dem andern abzuhandeln. Sie lassen sich für mich (für jede Leserin, jeden Leser wird das aufgrund der unterschiedlichen Textkenntnisse und Vorlieben anders sein) einteilen danach, ob sie Lust und damit auch Interesse oder auch, in zwei, drei Fällen, den Mut zum (Wieder-)Lesen eines Werkes wecken oder ob sie meinen Blick auf ein Werk verändern. Neben dem LexikonRoman – wer könnte sich Fliedls Aufforderung zum Mitspielen mit Okopenko versagen? – stehen so unterschiedliche Lusterweckungstexte, wie der Bodo Hells zu Güterslohs Sonne und Mond, der raffiniert vordergründiges Verstehen unterläuft, oder der nicht weniger raffinierte, sich Geschichten zerstörend auf den „Geschichtenzerstörer“ Bernhard und dessen literarischen Durchbruch, den Roman Frost einlassende von Ferdinand Schmatz oder Robert Menasses Annäherung an Doderer in der für seine Essayistik so typischen zugespitzten, produktiv provozierenden Weise (wer sonst käme schon auf die Idee, Doderer als „Aufklärer“ und „Abklärer“ zugleich zu bezeichnen und dazu aufzufordern Doderer und Canetti „gegeneinander“ zu lesen). Lust können aber durchaus auch philologische Zugänge wecken, wie gerade der souveräne, Menasse ergänzende Blick von Wendelin Schmidt-Dengler auf Doderers Die Dämonen oder auch dessen Kurzcharakteristiken der Autoren von hosn rosn baa und in anderer Weise Martin Hubers geradezu spannende textgenetische Ausführungen über Bernhards Frost beweisen.
Nun sind das, abgesehen von Güterslohs Roman, der es seinen Lesern und Leserinnen wahrlich nicht leicht macht, durchwegs Texte, die ihr Lesepublikum haben. Insofern sind jene Beiträge noch verdienstvoller, die das Interesse auf weniger beachtete, gleichwohl wichtige Werke lenken, auf Fred Wanders Der siebente Brunnen, dessen Einzigartigkeit innerhalb der österreichischen Literatur Klemens Renoldner ebenso hervorhebt wie dessen Unterschiedenheit von anderen KZ-Texten durch seine Vielstimmigkeit, indem er hauptsächlich andere zu Wort kommen lässt und nicht nur von sich spricht, auf Christine Lavants Lyrik, die Michael Braun und Evelyn Schlag vor der Reduktion auf die einer „fromme[n], naive[n] Naturdichterin“ bewahren wollen, die zwar „außerhalb ihrer Zeit“ dichte, dennoch nicht obsolet sei in ihrer Verzweiflung an Gott, oder auch auf Klaus Hoffers in zwei Bänden erschienenen Roman Bei den Bieresch, der kürzlich nach mehr als einem Vierteljahrhundert erfreulicherweise neu aufgelegt wurde, ein Buch, das – so Samuel Moser zurecht – unterschiedlichste Lesarten herausfordert: eine Herausforderung des methodisch verwirrenden Autors, der gerecht zu werden der Literaturwissenschaft noch bevorsteht. Die Schiene für eine beschränkte (Schlüsselroman) und eine weiterführende Lesart (jüdisches Denken) legt der Autor selbst in einem protokollierten Gespräch mit Kastberger.
Von Mut wecken war auch die Rede: ist das denn notwendig bei Literatur? Ganz so abwegig ist das nicht angesichts eines mehr als 3000 Seiten umfassenden Romans wie Dessen Sprache du nicht verstehst von Marianne Fritz, der zudem von der „Differenz zwischen der Schlichtheit des Erzählten und dem hypertrophen Wuchern der Erzählung“, von einem ständigen, verwirrenden Gegeneinander von „Verbergen und Entbergen, Offenbaren und Verschleiern, Andeuten und Zurücknehmen“ gekennzeichnet ist, wie Konrad Paul Liessmann gleichermaßen fasziniert und frustriert feststellt. Immerhin, der Genannte spricht in seinem Essay (ebenso wie gesprächsweise Michael Köhlmeier) Lesewilligen Mut zu, die Lektüre zu wagen, sie vielleicht nach einem ersten Scheitern erneut in Angriff zu nehmen. Mut mag vielleicht auch notwendig sein bei einem der im übrigen notwendigsten Bücher der letzten Jahrzehnte, bei Kerschbaumers Der weibliche Name des Widerstands, einem hochartifiziellen Text, der weiblichem Widerstand (nicht definiert über männlichen) jenseits von bloßer Dokumentation (trotz der Genrebezeichnung „Berichte“) oder biographischer Erzählung – beides in der Entstehungszeit des Texts in den späteren siebziger Jahren modisch – ein eben notwendiges Denkmal setzt.
Es lässt sich noch (ließe sich noch ausführlicher) einiges sagen darüber, welche Anstöße von den einzelnen Beiträge ausgehen: die Bereicherung der Sicht von Aichingers Roman durch Reichensperger (der das „poetologische Programm“, das Aufbrechen des „Abschließens“, des Ausschließens des Marginalisierten innerhalb des Gängigen, mit wenigen Strichen herauszuarbeiten versteht) und Kastberger (der das Motiv des Spielens, des Spielens als Widerstand, seines Umschlagens in Ernst verfolgt); die Aufforderung, sich der „Zumutung“ (im positiven, Bennschen Sinne) der Gedichte Bachmanns zu stellen (Hans Höller); nicht nur der inhaltlichen, sondern auch ästhetischen Qualität von Innerhofers Schönen Tagen sein Augenmerk zu schenken (Josef Winkler, Kastberger); Konrad Bayer einmal als „Meister des Aufhörens“ (Franz Schuh) zu sehen; die satirische Seite von Schwaigers Wie kommt das Salz ins Meer zu beachten (Daniela Strigl), vorurteilslos Hinterberger zu lesen (Erich Demmer, Johann Sonnleitner), endlich Reinhard Priessnitz, dem Pionier in der Fortführung avantgardistischer Ansätze, die angemessene Beachtung zu schenken (Ulf Stolterfoht, Thomas Eder) … Man darf gespannt sein auf die Fortsetzung und – um das Eingangsbild aufzugreifen – auf weitere Bojen hoffen, die uns vorbeilotsen an den Untiefen der österreichischen Literatur seit 1945.