Vieles, was zur „ersten Lieferung“ zu sagen war, gilt auch für die nun vorliegende, dass nämlich Orientierungshilfen offeriert werden und dazu aufgefordert wird, unterschiedliche Lesarten zuzulassen und zu erproben: schriftstellerische, literaturkritische und literaturwissenschaftliche, ohne Anspruch auf Kanonisierung einzelner Werke zu erheben oder gar ein literaturgeschichtliches Narrativ anzubieten. Gleichwohl werden für ein solches durchwegs brauchbare Bausteine geliefert und wird zweifellos durch ihre Einstufung als „Schlüsselwerke“ an der Kanonisierung einzelner Texte mitgewirkt. Wie in der „ersten Lieferung“ so wurden auch in der „zweiten“ Autorinnen und Autoren mit jeweils einem zentralen Werk ihres Schaffens ausgewählt, die als „Schlüsseltexte“ der zeitgenössischen österreichischen Literatur außer Frage stehen, wie solche von Artmann, Frischmuth, Haushofer, Jandl, Klüger, Lebert, Ransmayr, Streeruwitz oder Winkler, daneben aber auch nicht unbedingt erwartete, so von Broch, Czernin oder Pataki. Nicht unbedingt erwartet meint keinesfalls Infragestellung der literarischen Qualität des jeweiligen Werks, meint vielmehr, dass sie nicht im Zentrum des Interesses von Literaturkritik, Literaturwissenschaft und Literaturgeschichtsschreibung stehen beziehungsweise standen (dies gilt etwa auch für die Entscheidung, Canetti mit Masse und Macht und nicht mit einem seiner populäreren autobiographischen Bücher zu präsentieren). Wie schon bei der Auswahl der ersten Serie so fällt auch in der neuen auf, dass sich die Veranstalter weder um die Schwierigen (beispielsweise um den angesprochenen Canetti von Masse und Macht oder den verkürzt als sprachexperimentell zu bezeichnenden Czernin) noch um die aus welchen Gründen auch immer Marginalisierten (etwa Herbeck) drücken.
Wohl bieten nicht wenige der Beiträge Anstöße zu einlässlicherer literaturwissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Werk, aber das vorrangige Anliegen gilt nicht einer solchen, vielmehr der Leseraktivierung, dem Ziel, Interesse und Lust auf die (Wieder-)Lektüre einzelner Texte zu wecken. Schon das erste Grundbuch, Heidi Patakis Gedichtband Schlagzeilen (1968), macht eben Lust, sich auf außergewöhnliche Lyrik einzulassen. Julian Schutting weckt den Appetit, insofern er mit großer Sensibilität der Machart, dem faszinierend Poetischen, der Klangwelt der Gedichte Patakis, den metrischen Feinheiten, der raffinierten Reimtechnik und den vielfältigen intertextuellen Bezügen nachspürt und ebenso wie Thomas Rothschild, der den Lyrikband auch im Kontext der österreichischen Literatur seiner Erscheinungszeit beleuchtet, für ein in der literarischen Öffentlichkeit kaum wahrgenommenes Werk wirbt. Werbung macht aber auch für Lyrik allgemein, die mit sechs Beispielen in der vorliegenden Lieferung repräsentiert ist. H. C. Artmann zählt mit seinen von Ferdinand Schmatz treffend als „Mund-Art“ (S. 66) bezeichneten, „zum (Mit-)Spielen“ einladenden, vom Dichter bei Lesungen virtuos inszenierten Gedichten ebenso zu den kanonisierten Autoren der österreichischen Literatur seit 1945 wie die durch ihre „Mund-Art“ Artmann nahe, zugleich durch einen „ernüchternden sozialen Realismus“ (Daniela Strigl, S. 166) von ihm unterschiedenen Kinderbuchklassikerin Christine Nöstlinger sowie Ernst Jandl mit Laut und Luise (1966). Inspiriert von der Lautpoesie der historischen Avantgarden ebenso wie von Jazz und Pop-Musik demonstriert der Letztgenannte das poetische Potential der „lautlichen Qualitäten der Sprache“ (S. 252). Während Jandls Gedichte leicht ins Ohr gehen, fordert die vom Ringen um Sprache und Form, von „Reflexionslust“ (Michael Braun, S. 152) geprägte Lyrik Franz Josef Czernins, so auch der hier vorgestellte Band elemente, sonette (2002) von den Rezipierenden ein gerüttelt Maß an Bereitschaft, sich eben auf das hohe Reflexionsniveau einzulassen. Die Originalität der Wahrnehmung, die eigenwillige Musikalität und ausbalancierte Rhythmik (vgl. Gisela Steinlechner, S. 87), mithin ästhetische Qualität der durchwegs auf Aufforderung seines Psychiaters Leo Navratil in der Niederösterreichischen Landesnervenanstalt Gugging zu therapeutischen Zwecken entstandenen Texte von Ernst Herbeck haben nicht wenige namhafte Autorinnen und Autoren wie Mayröcker, Jandl, Priessnitz oder Gerhard Roth veranlasst, sich für diesen außergewöhnlichen Dichter einzusetzen. Sehr verdienstvoll, dass die Textsammlung Im Herbst da reiht der Feenwind (1992) durch die Aufnahme unter die „Grundbücher“ im Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit präsent bleibt.
Immerhin knapp ein Viertel der in den beiden Lieferungen präsentierten „Grundbücher“ sind der lyrischen Gattung zuzurechnen, aber lediglich zwei dramatische Texte fanden bislang Berücksichtigung. Wolfgang Bauers Magic Afternoon (1968) kann theatergeschichtlich als antitheatralischer Schlüsseltext gesehen werden, hat durch das Unterlaufen bürgerlicher Verlogenheit und Ordnungsbesessenheit sowie jeglichen Sinnanspruchs provoziert, und das nicht nur das bürgerliche Establishment, sondern auch im kulturellen Kontext die 68er, insofern er weder eine gesellschaftskritische Analyse liefert noch eine Gegenordnung zum Ennui einer Pseudoboheme verheißt: Die demonstrative „Unordnung“ erscheint denn auch, wie der Autor in einer Regieanweisung fordert, „nicht genial, nicht angenehm, sie ist nervös“ (zit. n. S. 121). Eruptiv bricht Gewalt aus, worin Thomas Baum nicht zu Unrecht Parallelen zu heutigen Aggressionserscheinungen und die Aktualität des Stücks erkennt (vgl. S. 129). Nichts an Aktualität eingebüßt, wenngleich durch ihre Romane etwas in den Hintergrund gedrängt, haben auch die Dramen der Autorin Marlene Streeruwitz. Am Beispiel von Waikiki-Beach (1999) spürt Manfred Mittermayer der durch Sprengung von Genre- und Mediengrenzen sowie hochgradige Intertextualität erzielten Sichtbarmachung der „Funktionsweise unserer Wahrnehmungs- und Denkschemata“ (S. 235), insbesondere des „phallische[n] Durchsetzungsprinzip[s] der Männerwelt“ (S. 238) nach.
Dass Dramen unter den „Grundbüchern“ bislang weniger Beachtung gefunden haben, mag u.a. damit zusammenhängen, dass einige der bedeutenden österreichischen Dramenschaffenden wie Bernhard, Handke oder Jelinek bereits mit erzählender Prosa vertreten sind, was jedoch nicht auf einen Gert Jonke, einen Werner Schwab oder auch einen Felix Mitterer zutrifft, die man sich in weiteren Lieferungen berücksichtigt wünschte. Das gilt auch für Peter Turrini als einen der wichtigsten zeitgenössischen österreichischen Dramatiker, der allerdings in der vorliegenden Lieferung mit der gemeinsam mit Wilhelm Pevny verfassten sechsteiligen Fernsehserie Alpensaga (1976-1980) vertreten ist, in der die österreichische Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jhs durch den dank sorgfältiger Recherchen scharfen Blick auf die unterdrückten und ausgebeuteten unteren sozialen Schichten, besonders auch der „doppelt“ (S. 225) unterdrückten Frauen, skandalerregend einen Paradigmenwechsel in der historischen Sichtweise signalisierte.
Genremäßig die traditionelle literarische Gattungstrias überschreiten Elias Canetti mit Masse und Macht (1960), Jean Améry mit seinen fünf wohl komponierten, mit Kalkül angeordneten Essays Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten (1966) sowie Das Haus des Dichters. Literarische Essays, Interpretationen, Rezensionen (1992) von der insbesondere als bedeutende Literaturvermittlerin erinnerungswürdigen Hilde Spiel. Besonders hervorzuheben, weil in seiner wirkungsgeschichtlichen (man denke an Ingeborg Bachmanns Drei Wege zum See oder an Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara), für die Bewusstseinsbildung von der Folter als „Essenz“ der „SS-Logik“ (nach S. 264 bzw. 261) und von den „Grenzen der Vorstellbarkeit“ (Lydia Mischkulnig, S. 258) der Folgen von „Tortur“ längst nicht ausgeloteten Bedeutung, ist die Berücksichtigung von Amérys Essaysammlung. Der Tatsache, dass die Vorstellung von „Grundbüchern“ in Hinblick auf die literarischen keinen einschränkenden Rahmen setzt, verdankt sich die Aufnahme von Canettis in Literaturgeschichten nicht berücksichtigtes, weil schwer, recht eigentlich weder als literarische noch als wissenschaftliche Schrift einzuordnendes Magnum Opus Masse und Macht. Dieses entfaltet enorme Suggestivkraft, indem es auf die Frage „Was ist der Mensch?“ (László F. Földényi, S. 110) keine wissenschaftlichen Antworten versucht, vielmehr mit „starke[n] Behauptungen“ (S. 118) herausfordert. Der Autor Doran Rabinovici zeigt sich in seinem Kommentar fasziniert vom Begriff „Atem-Gedächtnis“ (S. 107), den Canetti auf Hermann Broch, mit dem ihn das je unterschiedliche Interesse für das Phänomen der Masse verband, bezogen verwendete, um seine Bewunderung für dessen „Sinn für das Atmosphärische, das Gespür für die Schwingungen des Raums und der Zeit, für den Odem einer Epoche“ (S. 108) zum Ausdruck zu bringen.
Brochs Epochenbilanz Die Schuldlosen (1950), ebenfalls in Literaturgeschichten so gut wie nicht beachtet, verdient Aufmerksamkeit im Kontext der Schulddebatten nach 1945 (vgl. Gerald Stieg, S. 39). Der Roman thematisiert die „politische Gleichgültigkeit“, die „ethischer Perversion recht nah verwandt“ (Broch, Komm. Werkausg. V, S. 325) sei, als schuld an den nationalsozialistischen Verbrechen. Die Auseinandersetzung mit diesen und ihren Folgen ist ein seiner Bedeutung entsprechend zentrales Thema der „Grundbücher“. Zwingend findet daher Ruth Klügers längst zum Kanon der österreichischen Literatur zählendes erstes literarisches Werk weiter leben. Eine Jugend (1992) Berücksichtigung, das Hans Höller als „autobiographischen Bildungsroman“ (S. 135) versteht und das – wie Améry und intertextuell auf diesen auch bezogen (vgl. ebda) – eigene Erfahrungen mit dem Terror der Nazis und die Schwierigkeiten, darüber zu schreiben, thematisiert, beeindruckend vor allem durch „traumatische Körperbilder“ (S. 139).
Den Prinzipen des New Journalism folgend, recherchierte Erich Hackl für seine viel beachtete, ebenfalls schon zum Kanon der Schullektüre gehörende Geschichte Abschied von Sidonie (1989), in der er „Fakten“ und Mutmaßungen“ (nach S. 42) nicht immer scharf trennbar in einen narrativen Zusammenhang fügt. Dadurch übersteigt die Erzählung über die im KZ umgekommene Sidonie als Opfer des Wegschauens und vorauseilenden Gehorsams herzloser Verwaltungsbeamter bloß Fakten vermittelnden Dokumentarismus.
Als ein besonderes „Schlüsselwerk“ der österreichischen Nachkriegsliteratur kann Hans Leberts vielschichtiger Roman Wolfshaut (1960) gelten, der das Fortwirken des Faschismus in der österreichischen Provinz aufgrund der Nichtaufarbeitung von Verbrechen in der NS-Zeit thematisiert. Wie den Autor Michael Stavaric, der Parallelen zu Joseph Conrads Herz der Finsternis (vgl. S. 317) erkennt, hat Leberts Roman schon Autorinnen und Autoren wie Elfriede Jelinek in Kinder der Toten oder Christoph Ransmayr in Morbus Kitahara (beide 1995) nachhaltig beeindruckt. Für Lebert gilt, was Karl Wagner über Ransmayrs Roman sagt, dass nämlich in seinem Gedankenexperiment einer Umkehrung historischer Tatsachen „die Zeichen einer Topographie des Terrors“ (S. 196) freigelegt, mit einem Buchtitel Martin Pollacks durch Kriegsverbrechen Kontaminierte Landschaften (2014) sichtbar werden, zugleich eine Entmystifizierung der „habsburgische[n] Vergangenheit“ (S. 193) geleistet wird.
In einem ihrer fünf „große[n] Erinnerungsromane“ (Evelyn Polt-Heinzl in A-M. Graz/Wien 2009, S. 32), in Haus der Kindheit (2000), greift Anna Mitgutsch die aktuelle Restitutionsproblematik auf, um die „Differenz zwischen Täter- und Opfergedächtnis, zwischen individueller Schmerzerinnerung und kollektiver Abwehr“ (Konstanze Fliedl, S. 293) zu demonstrieren. Wichtig sind die Hinweise auf die Bedeutsamkeit der Topographie (des Gegensatzes zwischen der österreichischen Provinzstadt H. und New York – vgl. S. 297) sowie die viel zu wenig beachtete strenge Komposition aller Romane Mitgutschs (vgl. S. 304).
In seinem 15000 Seelen-Zyklus (1984-1988), komponiert wie ein „Flügelaltar“ (Thomas Ballhausen, S. 50 bzw. Daniela Bartens, S. 54), schreibt Peter Rosei gegen den sich ins Absurde steigernden Rekordwahn und die Geldgier an (vgl. S. 57). Seine Zielsetzung, multiperspektivisch eine „Totalität der Welt“ (S. 49) zu erfassen, ist nicht unähnlich dem Anliegen von Broch in seinen Epochenbilanzen. Jedenfalls ist sein Zyklus hochaktuell. Nichts an Aktualität eingebüßt haben auch Barbara Frischmuths sogenannte Sternwieser-Trilogie (1976-1979), die weibliche Lebensmuster mit ihren „Stolpersteine[n]“ (Elke Brüns, S. 94) thematisiert, wobei die Autorin, „mündlichen Erzählpraktiken“ (S. 93) folgend, Phantastisches und Reales sich ständig überlagern lässt (vgl. S. 103f.), sowie Marlen Haushofers „von einer existentiellen Einsamkeit“ (Olga Flor, S. 205) erzählender Roman Die Wand (1963). Diese Variation der Robinsonade beeindruckt mit ihrer „Klarheit und bewussten Einfachheit von Konstruktion und Sprache“ (ebda) und ihren Offenheit für die unterschiedlichen Lesarten als Utopie oder Dystopie (vgl. Strigl, S. 209).
Unter den vorgestellten Büchern finden sich noch zwei wahre Kleinode der jüngeren österreichischen Literatur, der von Peter Handke und Helga Mracnikar aus dem Kärntner Slowenischen ins Deutsche übersetzte Roman Der Zögling Tjaž (slow. 1972, dt. 1981) von Florjan Lipuš sowie Josef Winklers „römische Novelle“ Natura morta (2001). Ilma Rakusa sieht in nachvollziehbarer Begeisterung im Zögling Tjaž „den schwärzesten und ergreifendsten Internatsroman“ (S. 71), geprägt von „sprachlicher Wucht“ und klischeevermeidender, multiperspektivisch vielstimmiger Darstellung repressiver Internatserfahrung. Deren Unterlaufen erinnert an „Verfahren des Schelmenromans“ (vgl. Johann Strutz nach S. 75), das „Gekratze“ (S. 75) des rebellischen Tjaž speziell an das subversive Trommeln des Oskar Mazerath in der Blechtrommel von Günter Grass. Für Rakusa ist dieser Roman „ein Sprachkunstwerk, dessen Radikalität […] überwältigt“ (S. 71). Ähnliches ließe sich auch von Winklers „römischer Novelle“ sagen. Friedhelm Rathjen erkennt in ihr trotz der Ängste, die den Autor auch in der Fremde (wie im Benares der Erzählung Domra) nicht verlassen, sowohl in der Verortung, der Lokalisierung in Rom, als auch im Erzählverfahren des „Nebeneinander[s] der Einzelsnapshots“ (S. 282) einen Neuansatz innerhalb des Winklerschen Oeuvres. Fasziniert zeigt sich der Kritiker von der Schreibweise des Autors, von den „Bilderfluten“ (S. 286), davon, dass „jeder Satz […] eigentlich ein Bild für sich, ein Stilleben für sich“ (S. 285) darstellt, sowie von der Erzählweise, mittels derer es gelingt, den „beschleunigte[n] Herzschlag des Erzähler-Subjekts“ so eindringlich zu vermitteln, dass er sich auf die Lesenden „überträgt“ (S. 286).
Rakusas und Rathjens Ausführungen können beispielhaft stehen für die Mehrzahl der Beiträge, die – so unterschiedlich sie in ihrer methodischen Ausrichtung erscheinen – es doch vermögen, neugierig zu machen, zum Lesen und zum Weiterdenken zu verleiten. Man darf auf weitere „Lieferungen“ hoffen.