Was sofort auffällt, sobald man das Buch aufschlägt und zu blättern beginnt, ist seine Gestaltung. Die Beiträge sind dreigeteilt. Eine erste transparente Seite gewährt einen flüchtigen Einblick in den Schreibprozess oder offenbart ein Stück weit die Poetologie der Schreibenden. Erst dann folgen die Texte, welche schlussendlich durch ein Porträt der jeweiligen Autor:innen (fotografiert von Lea Menges) ergänzt werden. Erst an dieser Stelle erfahren wir ihre Namen, erfahren wir, wessen Zeilen wir da ein paar Seiten lang gelesen haben.
Im weitesten Sinn geht es in den Texten um eine Geografie der inneren Sprache (so der Untertitel der Anthologie), es geht um Fragen der Verwurzelung, um Herkunft und Abgrenzung, um eine Standortbestimmung des eigenen Ichs, das ja gerade beim Schreiben immer wieder Zersetzungsprozessen ausgesetzt ist, scheinbar jede Form annehmen kann (manchmal muss), nur um im nächsten Moment schon wieder in Frage gestellt oder dekonstruiert zu werden.
Schon beim ersten Lesen, beim ersten Durchwandern der Texte lassen sich viele Querverbindungen zwischen den einzelnen Beiträgen herstellen: Da wird Herkunft zu einem „Mosaikstück“ (Siljarosa Schletterer) und Sprache zum „Fluss“ (Erika Kronabitter) und das Erinnern „galoppiert in tote Winkel“ (Cornelia Hülmbauer). Fast schon programmatisch für die gesamte Anthologie wirken die Texte von Anna Bauer, in denen die Wechselwirkung von Entscheidung und Schmerz thematisiert wird, die Biegsamkeit von Sprache und Identität: „ich biege sprache und verbiege mich / der sprache wegen an welchen stellen / sagt man was wie lernt man zu / schweigen / immer nur an den richtigen stellen“ (S. 42).
Um Grenzerfahrungen und Endzeitstimmung geht es bei Seda Tunç („durch Fleischwölfe ging ich / gates und passkontrolle“) und Mariia Arson („wir brauchen keine sirenengesänge mehr“), um ein Ende des eigenen Ichs bei Asiyeh Panahi („Wie begierig ich dem Sterben folge / Wie willig ich die Zigarette bis zum Filter rauche / Ich will ans Ende meiner selbst kommen“) und Valerie Prinz („und manchmal, wenn wir reden / wünsch ich mir, / dass wir bremsen und ein kopf ganz fest gegen die scheibe schlägt“), bei Verena Stauffer um die Sehnsucht, zumindest im Text verschwinden zu können: „Der Trick ist, niemand darf wissen, wo man gerade ist“.
Einige der Autor:innen beschreiben in ihren Beiträgen auch ihren Zugang zum Thema Intertextualität oder versuchen offenzulegen, welche anderen Texte Spuren in ihrem eigenen Schreiben hinterlassen haben: „Je mehr Referenzen ich derzeit finde, je mehr ich meine Sprache in die Sprache anderer einbetten kann, desto aufgehobener und sicherer fühle ich mich“ (Verena Stauffer, S. 114).
Auch wird das Übersetzen zwischen der eigenen und anderen Sprachen thematisiert, bei Astrid Nischkauer bedeutet das, „die eigene Sprache fortwährend / neu zu hinterfragen“ (S. 252).
Darüber hinaus geht es in habe bewurzelte Stecklinge auch um die Frage, inwiefern literarische Texte ein Ersatz für Heimat, für Geborgenheit sein können. Frieda Paris, zum Beispiel, schreibt von Texten, denen sie ein „Nest“ wünscht, Jana Volkmann: „wir bleiben also wir nisten“. Ohne Ort der Heimkehr oder Rückkehr, wird alles Heimat, wird alles zum Zuhause, das zeigen vor allem die Beiträge von Michèle Yves Pauty: „ich habe mir Lagerplätze Sicherheitsorte gebaut die ein Rückkehren ein Weggehen möglich machen ohne alles abzubrechen“ (S. 137). Was Yves Pauty an anderer Stelle fragen lässt: „sitzt mein Körper in einem Nest oder einer Falle“ (S. 139).
Andere Texte befassen sich mit den Schwierigkeiten des Anfangens, mit der Frage: Wie zu einem Ende kommen? „Man wächst weil etwas abstirbt“ (S. 151), schreibt Hannah K. Bründl, und „IN WAHRHEIT SUCHE ICH NACH EINER SPRACHE IN DER WIR UNS VERABSCHIEDEN KÖNNEN“, als wäre die Sprache, mit der wir uns begrüßen, eine andere, als die, die wir für Abschiede verwenden, „als müssten manche dinge zwingend / an der wäscheleine enden“ (Helene Proißl, S. 179). Ich stelle fest: Wenn man will, kann man viele der Beiträge als Weiterschreibungen anderer lesen.
Caca Savić skizziert eine Utopie, wie sie vielleicht nur in der Literatur möglich ist, eine Welt, „wo Mengen alle / Ausnahmen wieder einschließen“ (S. 187), an verschiedenen Stellen in der Anthologie geht es um die Möglichkeit (beziehungsweise Unmöglichkeit), mit Sprache auch tatsächlich erfolgreich zu kommunizieren („dir etwas sagen & wissen dass du verstehst“, schreibt Valerie Zichy, S. 289), um Gespräche „entlang von Nähten“ (Sandra Hubinger) und um Wörter, die nicht mehr zu gebrauchen sind: „ich habe einen abstellraum, da bring ich / alle wörter hin / die keine mehr sind“ (Nadia Rungger, S. 235).
Dann gibt es noch die Texte von Katharina Klein, die eindrücklich die Auswirkungen des Anthropozäns aufzeigen („und ich dachte, wir könnten meere halten wie pools“, S. 206), wie weit fortgeschritten der angerichtete Schaden bereits ist („ziehe katastrophen aus. nackt sind sie weniger einschüchternd“, S. 204) und wie wir auf persönlicher Ebene davon betroffen sind („dieses sein aus schluchten“). Dazu passend auch die folgende Zeile von Sarah Rinderer: „ab und an / erlaube ich mir / in ruinen zu fallen“ (S. 265).
Um auch mit diesem Text zu einem Ende zu kommen: Die Auswahl, die ich hier getroffen habe, ist (natürlich) eine subjektive. Ich habe mir die Passagen ausgesucht, die mich am meisten angesprochen haben, aber ich möchte betonen, dass es in dieser Anthologie noch viel mehr zu entdecken gibt. Dieser mit viel Empathie und Kenntnis zusammengestellte Band beweist eindrucksvoll, wie vielschichtig die österreichische Gegenwartslyrik ist. Zugleich entsteht durch dieses Nebeneinanderstellen verschiedener Beiträge eine Wechselwirkung, die dazu führt, dass einzelne Texte zusammenwachsen, obwohl sie getrennt voneinander entstanden sind. Raoul Eisele und Lea Menges ist durch die Auswahl der Beiträge und die grafische Gestaltung der Anthologie das Kunststück gelungen, dass Texte miteinander in Beziehung treten und Verknüpfungen, Verschränkungen und Verzweigungen sichtbar werden.
(Was ich der Vollständigkeit noch ergänzen möchte: Raoul Eisele und ich sind seit mehreren Jahren gemeinsam als Literaturveranstalter tätig, aber auch darüber hinaus verbindet uns eine tiefe Freundschaft. Das wollte ich an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen.)