Halbe Leben ist bereits das sechste Buch von Susanne Gregor. Wie in ihren letzten beiden Romanen Wir werden fliegen (2023) und Das letzte rote Jahr (2019) verbindet sie auch hier auf raffinierte Art ihre slowakische Heimat und Österreich, das Land, in dem sie lebt und arbeitet. Anders als in ihrem Roman von 2019 hat man es hier keineswegs mit einem historisch wichtigen Datum wie der Wende von 1989 und dem Zusammenbruch eines Systems, sondern mit einem scheinbar weniger politischen und unaufgeregteren Kontext zu tun: mit der seit bald 20 Jahren in Österreich praktizierten 24-Stunden-Pflege für alte, kranke und immer öfter demente Menschen, durchgeführt von fast immer osteuropäischen Pflegerinnen, die im Zwei-Wochen-Rhythmus ihrer meist monotonen und emotional herausfordernden Arbeit in österreichischen Familien nachgehen. Doch die Situation der zu betreuenden Menschen selbst und ebenso ihrer Angehörigen ist auch einen genauen Blick wert: Für alle Beteiligten, also die erwachsenen Kinder, den alten Menschen selbst und die neue Pflegerin bedeutet das ungewohnte Zusammenleben einen großen Einschnitt. In dieser nicht weniger als erschütternden Geschichte lässt Susanne Gregor alle drei Parteien ausführlich zu Wort kommen.
Das Thema Pflege, Hilflosigkeit und Demenz im Alter hat an sich schon länger ins belletristische Schaffen und in den Spielfilm Eingang gefunden. Man denke nur an Arno Geigers Der alte König in seinem Exil (2011) oder den dreistündigen deutschen Kinofilm von 2024 mit dem alles sagenden Titel Sterben (Regie: Matthias Glasner). Während hier aber ganz klar die Angehörigen und die alten, verwirrten Mütter oder Väter im Fokus standen, wurden über die Pflegerinnen selbst bisher nur Dokumentarfilme gedreht, etwa 24 Stunden in der Regie von Harald Friedl, ebenfalls aus dem Jahr 2024.
Susanne Gregor geht in Halbe Leben einen entscheidenden Schritt weiter und erhebt die Enddreißigerin Paulína, Slowakin aus der Kleinstadt Prievidza, ausgebildete Krankenschwester und geschiedene Mutter zweier Söhne, zur Hauptfigur eines dramatischen und tragischen Geschehens, einer Geschichte, die – wie man ganz am Anfang in aller Offenheit erfährt – nicht gut ausgehen wird. Und zwar für keine der oben genannten Personen.
Paulína, die bis dahin immer im Krankenhaus gearbeitet, dann aber ihre beiden Eltern kurz vor deren Tod gepflegt hat, entscheidet sich, als Pflegerin nach Österreich zu gehen, um die finanzielle Situation für sich und ihre beiden Söhne, 16 und 10 Jahre alt, zu verbessern. Vorerst erscheint ihr ein Umzug in eine größere Wohnung als realistisches Ziel. Dem Klischee – oder der Realität – entsprechend, ist es ihr Ex-Mann, der sie verlassen und längst eine neue Freundin gefunden hat, während sie seit drei Jahren nichts Amouröses erlebt hat. So gesehen hält sie in der Heimat nicht allzu viel – bis auf die beiden Buben, die mal mehr und mal weniger Nähe zulassen. Es sind aber genau die gleichen Jungen, die sich über teure Geschenke freuen, egal, ob sie vom Vater oder von der Mutter kommen. Die beiden Söhne lässt Paulína bezeichnenderweise bei ihrer Schwiegermutter, die – so viel erfährt man – immerhin einen korrekten Umgang mit ihnen pflegt. Paulína hat zwar noch aus der Schulzeit gewisse Deutschkenntnisse, das Leben in Österreich, und insbesondere in ihrer neuen, dezidiert österreichischen Familie, ist und bleibt ihr fremd. Das fängt schon damit an, dass sie als reiner (Klein-)Stadtmensch dem Leben auf dem Land nichts abgewinnen kann. Sie besitzt keine Wanderschuhe und kann die vielleicht schöne, aber monotone Landschaft nicht einmal auf einer Zugfahrt genießen.
In einer nicht weniger vertrackten Lage befindet sich die genau gleich alte Klara, die Tochter der zu betreuenden, etwa 70-jährigen Irene. Klara ist beruflich äußerst erfolgreich: Sie ist bald Teilhaberin eines gut gehenden Architekturbüros in Salzburg, das sie insgeheim als ihre wahre Familie empfindet. Anders als Paulína steckt Klara in einer auf eine ganz spezielle Art unglücklichen Ehe. Jakob, ihr Mann und Vater ihrer halbwüchsigen Tochter, ist Fotograf auf Amateurniveau und verfügt über keinen Ehrgeiz, irgendetwas an seiner beruflichen Bedeutungslosigkeit zu ändern. Was zugleich aber auch nicht heißt, dass er besonders viel Zeit hätte, um sich um die kürzlich zu ihnen gezogene alte Frau zu kümmern, ebensowenig wie um den Hund, den sich die Familie irgendwann im Verlauf der Geschichte zulegt.
Die Handlung spitzt sich schließlich folgendermaßen zu: Paulína schafft es nicht, ob aus Unerfahrenheit oder aus anerzogener weiblicher Selbstaufopferung, eine gewisse Distanz zu Klara und ihrem Mann zu halten; sie übernimmt, zuerst freiwillig, dann quasi gezwungenermaßen, Arbeiten im Haus, die nicht zu ihren Aufgaben gehören. Die alte, zunehmend desorientierte Frau verwöhnt sie eher, als aktiv und mit etwas Strenge am Erhalt ihrer noch verbliebenen geistigen Kräfte zu arbeiten. Ganz anders macht das übrigens ihr Landsmann Radek, der Irene in den jeweils anderen zwei Wochen betreut. Aber auch Klara und ihr Mann Jakob, die ja nicht per se unsympathisch oder unfreundlich sind, begehen entscheidende Fehler, indem sie die Pflegerin zu weit in ihr Leben integrieren, ohne sie wirklich darin aufzunehmen. Besonders schmerzhaft spürt Paulína das auf einer Hausparty, zu deren Vorbereitung sie viel beigetragen hat, auf der sich aber niemand wirklich mit ihr unterhalten möchte, nicht einmal aus Höflichkeit.
Es kommt, wie es kommen muss: Der Neid auf die vermeintlich besser gestellte, westliche Frau wächst; Paulína erscheint es so, als würden sich alle Wünsche von Klara, der gut situierten Österreicherin, schnell und von allein erfüllen, und übersieht die Widersprüche, zwischen denen die karriereorientierte Frau steckt, die sich aus irgendeinem Grund auch eine Familie zugelegt hat, die sich übrigens bald erweitern wird. Und zwar nicht unbedingt auf Klaras Wunsch. Einige Turbulenzen im Alltag der zurückgelassenen Söhne und ein missglücktes erotisches Erlebnis tragen das Ihre dazu bei, und irgendwann ist die viel gestresste Altenbetreuerin, Haushaltshilfe und (Pseudo-)Freundin der Familie am Ende ihrer Kräfte und geht völlig auf Rückzug. Das hat sich aber Klara, die letztlich Paulínas Arbeitgeberin ist, eigentlich nicht so vorgestellt …
Halbe Leben ist eine meisterhaft aufgebaute psychologische Studie über Menschen in verschiedenen Lebensaltern und ihr Zurechtfinden in neuen Umgebungen und Konstellationen. Besonders überzeugend ist der geistige Zustand der ehemaligen Lehrerin, begeisterten Wandererin und Alleinerzieherin Irene gelungen: Ihre Vergangenheit, in äußerst stimmungsvollen Bildern ausgebreitet, dringt immer mehr in ihre Gegenwart ein, die Ebenen vermischen sich zunehmend und überlagern einander. Das langsame Wegrücken aus der Familie und Gesellschaft am Beispiel dieser Figur hat Susanne Gregor mit erschreckender Genauigkeit eingefangen. Nicht weniger treffend gelingt ihr auch die Schilderung der Entwicklung des jugendlichen Rišo, bei der sie sich – ebenso wie in Das letzte rote Jahr – als exzellente Kennerin jugendlicher Lebenswelten erweist. Am stärksten prägen sich aber die beiden Frauen in der Lebensmitte ein, Paulína und Klara, und ihre tragische Verstrickung. Halbe Leben ist eine hochspannende Geschichte über Missverständnisse, kulturelle Unterschiede und falsch verstandene Frauenrollen diesseits und jenseits des längst gefallenen eisernen Vorhangs.
Jelena Dabić, geb. 1978 in Sarajevo, studierte Germanistik und Russistik in Innsbruck und Wien. Übersetzerin aus dem Serbischen, Kroatischen und Bosnischen, Literaturkritikerin und Sprachlehrerin. Zuletzt erschienen in ihrer Übersetzung: 24 von Marija Pavlović (Roman, Drava, Klagenfurt 2021), Die schwindende Stadt von Pavle Goranović (Gedichte, edition korrespondenzen, Wien 2019) und Grüne Nacht in Babylon von Sofija Živković (Gedichte, Edition Aramo, Wien 2018). Teilnahme am 23. Poesiefestival Berlin (Juni 2022). Mitarbeit an den Anthologien Grand Tour. Reisen durch die junge Lyrik Europas. Hg. von Federico Italiano und Jan Wagner (Hanser 2019) und VERSschmuggel. Poesie aus Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Montenegro […] (Das Wunderhorn, Heidelberg 2023). Rezensentin beim Portal poesiegalerie.